Bericht Allgemeine Programme 2021

Aus der Geisendörfer-Jury Allgemeine Programme / Von Diemut Roether

NDR

Die Corona-Pandemie hat auch die Arbeit der Hauptjury des Robert Geisendörfer Preises in diesem Jahr grundsätzlich verändert. Die Jury-Sitzung fand als Zoom-Konferenz statt, Ende April waren Treffen auch im kleineren Kreis noch nicht möglich. Da im vergangenen Jahr die Preisvergabe wegen der Pandemie ganz ausgefallen war, hatte die Jury in diesem Jahr Einreichungen aus zwei Jahrgängen zu begutachten. Und weil die Jury nicht gemeinsam sichten konnte, war die Sichtungs-Arbeit für die Juroren und Jurorinnen sehr einsam - der Austausch über die eingereichten Stücke stand nicht so unmittelbar unter dem Eindruck der zuvor angesehenen und gehörten Beiträge wie in früheren Jahren.

Erstmals waren in diesem Jahr auch Audios und Videos aus Internetangeboten im Kontingent. Die Jury begutachtete die Videos gemeinsam mit den Fernsehbeiträgen und die Audios gemeinsam mit den Einreichungen für Radio. In die engere Auswahl waren in diesem Jahr nach der Selektion durch die Vorjury und einer ersten Punktevergabe der Hauptjury 15 Fernseh- und Videobeiträge sowie elf Radio- und Audiobeiträge gelangt.

Hartnäckige Recherchen

In der Kategorie Audio zeigte sich, dass die Podcasts eine große Bereicherung für das Kontingent sind. Sie konnten sich sehr gut neben den klassischen Hörspielen und Features behaupten, die in den vergangenen Jahren die Endauswahl der Hörfunkbeiträge dominierten. So standen in der Schlussrunde drei Hörspiele, drei Features und vier Podcastproduktionen sowie eine Sendung „Gottesdienst im Gespräch“ zur Diskussion.

Wäre es nach der ersten Wertung der Hauptjury gegangen, die vor der Diskussion abgegeben wurde, hätte Margot Overath den Preis für ihr mehrteiliges WDRFeature „Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau“ erhalten, doch Overath wurde bereits vor zehn Jahren für eines ihrer ersten Features zu dem nie aufgeklärten Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau mit dem Robert Geisendörfer Preis ausgezeichnet, und Jurys wiederholen sich nicht gern.

Die Jury diskutierte über die Frage, ob Margot Overath wegen ihrer hartnäckigen Recherchen zu diesem Fall, bei dessen Aufklärung sowohl die Polizei als auch die Justiz in Sachsen-Anhalt offenkundig versagt haben, eine Kandidatin für den Sonderpreis wäre. Am Ende entschied sie sich jedoch, den Sonderpreis an Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf zu geben: dafür, dass die beiden wiederholt die Sendezeit, die sie im Spiel gegen ihren Sender ProSieben gewonnen hatten, für wichtige Themen wie Gewalt gegen Frauen oder die Seenotrettung von Flüchtlingen zur Verfügung stellten. Besonders beeindruckt zeigte sich die Jury von der siebenstündigen Dokumentation zum Pflegenotstand, die Anfang April zu sehen war. Hier hatte der Sender mitgespielt und die 15 Minuten auf sieben Stunden verlängert.

In der Diskussion über die Audiostücke zeigte sich, dass zwei Hörspiele die Juroren besonders beeindruckt hatten. In „Türken, Feuer“ (WDR) gibt Özlem Özgül Dündar den Frauen türkischer Abstammung, die bei dem Brandanschlag in Solingen im Mai 1993 starben, eine Stimme. In den sich abwechselnden fiktiven Monologen kommt auch die überlebende Mutter zu Wort und schließlich die Mutter eines Brandstifters.

Dieser Versuch, sich verständlich zu machen, die Bemühungen um einen Dialog, der jedoch nicht gelingt, passte eigentlich sehr gut zu den Statuten des Geisendörfer Preises, weil hier deutlich wird, dass das Gespräch die Grundlage für Verständnis und Integration ist.

Das Stück überzeugt auch durch ein herausragendes Sprecherinnenensemble, doch am Ende entschied sich die Jury für das Hörspiel „Ich werde nicht hassen“ (WDR)von Izzeldin Abuelaish und Claudia Johanna Leist (Regie). Es basiert auf der Autobiografie des palästinensischen Arztes Abuelaish, der zuerst seine Frau durch eine Krankheit und später durch einen Raketenangriff drei seiner Töchter verloren hat. Trotz aller Schikanen, die er in seinem Leben als Palästinenser durch Israelis erfährt, bleibt er seiner Überzeugung treu, dass Hass sich nicht mit Hass bekämpfen lässt. Und immer noch glaubt er fest daran, dass „Bildung eine Waffe gegen die Schwierigkeiten des Lebens ist“.

Aufruf zu Nächstenliebe

Die erschütternde Geschichte von Abuelaish wurde zuerst von Sylvia Armbruster und Ernst Konarek für ein Theaterstück überarbeitet, das wiederum die Grundlage für das Hörspiel von Claudia Johanna Leist bildete. Abuelaishs leidenschaftliches Eintreten für Verständigung, sein Aufruf zu Frieden und Nächstenliebe, seine beeindruckende Absage an Krieg, Gewalt und Hass erfüllt perfekt die Statuten des Geisendörfer Preises.

Über drei weitere Hörstücke diskutierte die Jury länger, weil sie alle drei für preiswürdig hielt. Da war zum einen „Queer, katholisch, mexikanisch - die Muxes von Juchitán“ (RBB), ein Feature von Tanja Krüger und Johanna Rubinroth über „das dritte Geschlecht“, die Muxes von Juchitán, denen geheimnisvolle Kräfte nachgesagt werden. Diese Männer in Frauenkleidern, die „maskuline Kraft und feminine Sensibilität“ verbinden, werden zwar von einigen Mexikanern als Teil der alten zapotekischen Kultur verehrt, doch zugleich gibt es auch in Juchitán wie überall in Mexiko Homophobie und Gewalt gegen Frauen. Auch die Muxes werden nachts auf der Straße angegriffen.

Dieses sehr atmosphärische Feature nimmt die Hörer mit in den Süden von Mexiko. Es schildert das Leben der Muxes, ihre Lebenslust, die Feste, die sie feiern, die Märkte, auf denen sie ihre Waren verkaufen, und ihren täglichen Kampf um Anerkennung. Tanja Krüger und Johanna Rubinroth beschönigen nichts, sie idealisieren Juchitán nicht als Matriarchat, sprechen auch über die Gewalt in Mexiko und die kriminellen Banden, die Frauen entführen und töten.

Die beiden anderen Hörstücke in der engeren Auswahl waren zwei Podcasts: In dem True-Crime-Podcast „Der Mörder und meine Cousine“ (BR) erzählt der Schauspieler Buchard Dabinnus zusammen mit Tatjana Thamerus die Geschichte seiner Cousine Saskia, die von ihrem Lebenspartner getötet wurde. In dem Prozess gegen den Täter stellt sich heraus, dass der Mann zuvor bereits andere Frauen bedroht, vergewaltigt und getötet hatte. Dabinnus und ein Polizeibeamter recherchieren und erkennen, dass die Richter dem Mann wegen der Beziehungstaten immer wieder mildernde Umstände zubilligten. So kam er nach jeder Tat relativ schnell wieder frei - um dann das nächste Opfer mit seinen Besitzansprüchen zu bedrängen.

Dieser Podcast ist relevant, weil er das Thema Femizid in den Mittelpunkt stellt und an einem gut belegten Beispiel zeigt, dass die Justiz Gewalt gegen Frauen häufig verharmlost. Es wird deutlich, dass Justiz und Polizei immer noch zu wenig darauf ausgerichtet sind, weibliche Opfer vor solcher Gewalt zu schützen. Der Mord an Dabinnus‘ Cousine hätte verhindert werden können, wenn ihr Mörder nicht immer wieder mit milden Urteilen davongekommen wäre.

Am Ende entschied sich die Jury für „Sack Reis -Was geht dich die Welt an“ (SWR). In diesem Podcast sprechen die Moderatorin Merve Kayikci und die Moderatoren Malcolm Ohanwe und Ramin Sina mit jungen Menschen in aller Welt über deren Lebenssituation. So spricht Ramin Sina mit dem Raver Mouin Jaber in Beirut über die Explosion im Hafen und die Folgen für die Stadt und die Menschen, die in ihr leben. Jaber macht selbst einen Podcast, in dem er mit anderen Libanesen über Aufklärung und Sexualität spricht, und als Raver kennt er natürlich auch das Berghain in Berlin.

Die Gesprächspartner sind sehr gut ausgesucht: Sie haben etwas zu erzählen, und sie haben auch schon viel von der Welt gesehen. Die Gespräche sind intensiv und geben viele Einblicke in andere Kulturen und Lebensweisen. Sie brechen mit Klischees und zeigen zugleich, wie viel junge Menschen in allerWelt verbindet. Der Podcast bringt jungen Hörern Auslandsthemen auf eine Weise nah, dass sie nach dem Hören nicht mehr fragen werden: Was geht mich die Welt an?

Midlife Crisis im Migrantenmilieu

Bei den eingereichten Fernsehbeiträgen blieben fünf Fernsehfilme, eine Serie und neun Dokumentationen in der engeren Auswahl. Schnell war klar, dass die satirische ZDF-Serie „Deutscher“, in der geschildert wird, wie nach dem Sieg einer populistischen Partei in der Nachbarschaft einer deutschen Kleinstadt die Stimmung immer weiter ins Gewalttätige kippt, zwar ein Sehvergnügen ist, aber für einen Preis nicht infrage kommt.

Das dreiteilige Drama „Das Geheimnis des Totenwaldes“ (NDR/ARD) fand zwar wegen seiner erzählerischen Wucht und des Themas, dass die Angehörigen die Toten nicht ruhen lassen können, so lange sie nicht wissen, was ihnen geschehen ist, einige Fürsprecher, aber nicht genug, um ein echter Preiskandidat zu werden. Ähnlich erging es der Jury mit „Herren“ (BR/Arte): Hier wurde zwar gelobt, dass das Mittelschichtsthema Midlife Crisis mal im Migrantenmilieu angesiedelt wurde, aber der Film konnte nicht mithalten mit den zwei Favoriten.

Das war zum einen „Sterne über uns“ (ZDF/Arte), ein Film, der erzählt, wie eine junge Mutter, die unverschuldet obdachlos wird, verzweifelt versucht, mit ihrem Sohn ein einigermaßen normales Leben zu führen: Die beiden campen im Wald, aber morgens bringt die Frau den Sohn in die Schule und geht zu ihrem Job bei einem Flughafen, wo sie gerade ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen hat. Franziska Hartmann gibt ihrer Melly, die sich trotz aller widrigen Umstände bemüht, die Fassade aufrechtzuerhalten und stets in gut gebügelter Uniform am Flughafen erscheint, eine große Würde. Das
soziale Netz fängt sie nicht auf? Melly will ihren Sohn trotzdem nicht ins Heim geben und kämpft. Ihr Leben und das ihres Sohnes steckt in dem Rollkoffer, den sie hinter sich herzieht.

Einige Juroren bezweifelten, dass jemand, der so lebt wie Melly, auch nur wenige Tage pünktlich und adrett zum Dienst am Flughafen erscheinen könnte. Andere schätzten gerade diesen mangelnden Realismus, weil er die Möglichkeit gibt, sich mit der Situation der jungen Frau und ihres Sohnes auseinanderzusetzen, ohne Mitleid zu erwecken. Es geht darum, wie ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben trotz widriger Umstände möglich ist.

Sicherer Hafen

Die Mehrheit der Juroren zeigte sich jedoch stärker beeindruckt von dem Dokudrama „Die Ungewollten - Die Irrfahrt der St Louis“ (NDR/ARD), das die wahre Geschichte des deutschen Passagierschiffs St. Louis erzählt, mit dem fast 1.000 jüdische Deutsche im Juni 1939 nach Kuba entkommen wollten. Die Nazis hatten diesen Menschen fast alles genommen, nun hofften sie auf ein sicheres und besseres Leben in der Karibik.

NDR

In Havanna jedoch verweigert die kubanische Regierung den Menschen die Einreise. Szenen der Verzweiflung spielen sich auf dem Schiff und bei den Angehörigen, die im Hafen auf ihre Liebsten warten, ab. Kapitän Gustav Schröder sucht nach einer Lösung, doch auch die USA und Kanada weigern sich, die Passagiere aufzunehmen. Auf Anweisung der Reederei muss das Schiff nach Europa
zurückkehren, und Schröder gelingt es schließlich, in Belgien eine Landegenehmigung zu erhalten, die Passagiere werden von Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien aufgenommen.

Ähnliche Geschichten wie diese spielen sich seit vielen Jahren wieder im Mittelmeer ab. So erinnert „Die Ungewollten“ nicht nur an den Mut des Kapitäns, der trotz gegenteiliger Befehle alles tat, um seine Passagiere buchstäblich in einen sicheren Hafen zu bringen, der Film ruft uns auch die Schicksale der Flüchtlinge in Erinnerung, die in italienischen Häfen abgewiesen wurden.

Im Mittelpunkt des Films von Ben von Grafenstein steht Kapitän Gustav Schröder, den Ulrich Noethen als aufrechten, pflichtbewussten aber auch der Menschlichkeit verpflichteten Mann verkörpert. Immer wieder gelingt es ihm, die verzweifelten Passagiere, die kurz vor der Meuterei sind, zu beruhigen, und er widersetzt sich den Nazis, die ihn zwingen wollen, die Passagiere nach Deutschland zurückzubringen. Die Präsenz dieses Schauspielers und die von Britta Hammelstein, die die Jüdin Martha Stern spielt, tragen diesen Film und machen ihn zu einem Manifest der Menschlichkeit.

Ein Staat im Staat

Bei den Dokumentationen blieben nach der Diskussion zwei, die der Jury preiswürdig erschienen. In dem Dokudrama „Schuss in der Nacht - Die Ermordung Walter Lübckes“ (HR/ARD) versuchen die renommierten Filmemacher Hannah und Raymond Ley, anhand der Vernehmungsprotokolle des inzwischen verurteilten Mörders Stefan E. den Tathergang in der Nacht des 1. Juni 2019 zu rekonstruieren. Der Täter hat zwar keinen Zweifel daran gelassen, dass er aus Hass auf Lübcke gehandelt hat, unklar ist jedoch auch nach der Verurteilung, ob er wirklich allein gehandelt hat und welche Rolle sein Freund Markus H., der wie E. zur Kasseler Neonazi-Szene zählte, bei der Tat spielte.

All das können Hannah und Raymond Ley zwar ebenso wenig aufklären wie die Rolle des hessischen Verfassungsschutzes, der Stefan E. bis 2009 als gefährlich eingestuft, ihn jedoch in den Jahren vor dem Mord offenbar aus den Augen verloren hatte. Dass in dem Dokudrama ein dubioser Verfassungsschützer auftaucht, der sich Wortgefechte mit den Ermittlern liefert und offenkundig
versucht zu verhindern, dass sie in bestimmte Richtungen weiterforschen, hielten einige Juroren für eine Räuberpistole. Andererseits spielte der hessische Verfassungsschutz auch bei der Aufklärung des NSUMords von Kassel eine dubiose Rolle, und das Land Hessen hält bis heute wichtige Akten zu dem Fall gesperrt.

Die Jury gab den zweiten Fernseh-Preis jedoch an die 200 Minuten lange Dokumentation „Colonia Dignidad - Aus dem Innern einer deutschen Sekte“ (WDR/SWR/Arte). Annette Baumeister und Wilfried Huismann gehen in dem Film der Frage nach, wie es Paul Schäfer gelang, in Chile einen Staat im Staat zu errichten, in dem über drei Jahrzehnte lang Menschen gequält und Kinder sexuell missbraucht wurden und schließlich auch Menschen im Auftrag des Diktators Pinochet gefoltert wurden.

Baumeister und Huismann haben unzählige Kilometer Filmmaterial aus der „Colonia Dignidad“, das noch erhalten ist, gesichtet und ergänzen dies mit Gesprächen mit heute Erwachsenen, die einst dort als Kinder aufwuchsen und die Mechanismen der Entmenschlichung schildern. „Der Schäfer war mein Papa“, sagt einer.

Baumeister und Huismann lassen den Menschen vor der Kamera Zeit. Mit Empathie und Distanz gelingt es ihnen, dass die ehemaligen Kolonie-Bewohner das schier Unaussprechliche aussprechen. Ihr Film ist ein Lehrstück über das Entstehen totaler Herrschaft. Überzeugend und erschütternd.