von Tilmann P. Gangloff
Neues aus der Wattewelt. Bericht aus der Jury „Kinderprogramme“
Wer die Welt nur aus dem KI.KA kennt, muss sie für das Paradies halten. Die Idylle mag kleine Fehler haben, aber im Grunde geht es zu wie am Freitagabend ab 20.15 Uhr im Ersten: Am Ende wird alles gut. Gerade in den Details zeigt sich, wie behütet deutsche Kinder aufwachsen. Sind sie mit dem Rad unterwegs, tragen sie natürlich Helm. Handelt es sich um 15-jährige Jungs, die gemeinsam eine befristete Wohngemeinschaft betreiben, investieren sie das großzügige Budget, das ihnen zur Verfügung gestellt wurde (500 Euro pro Woche) selbstredend nicht in Alkohol. Wird ein Erwachsener von einem Anruf im Auto ereilt, fährt er zum Telefonieren vorbildlich an den Straßenrand. Bei Casting-Shows werden die jungen Teilnehmer wie kleine Prinzessinnen und Prinzen behandelt.
Werfen Redaktionen und Autoren doch mal einen Blick in den Abgrund der unbarmherzigen Wirklichkeit, sorgt ein allwissender, nie endender Kommentar (meist Gerrit Schmidt-Foß) mit ganz viel Sonne in der Stimme dafür, dass man als Zuschauer gar nicht hinschauen muss, weil ständig beschrieben wird, was die Bilder zeigen. Allzu oft begnügen sich die Beiträge damit, die Oberfläche abzufilmen. Diese Produktionen, gern unter dem Reihentitel „Fortsetzung folgt“ versendet (ein Format mit konkreten Stilvorgaben), wurden in der diesjährigen Jurysitzung des Robert Geisendörfer Preises für Kinderfernsehen schließlich nur noch als das Werk „fauler Gutmenschen“ eingestuft.
Bloß Mittel zum Zweck
Exemplarisch für diese nachlässige Art, mit interessanten Stoffen und Protagonisten umzugehen, ist der eingereichte Film „Endlich wieder Schule“ (RBB). Der 15-jährige Joseph ist vor dem kenianischen Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen, lebt in einem Flüchtlingsheim und paukt für den Schulabschluss, damit er nicht wieder abgeschoben wird. Susanne Heim und Maico Riegelmann bebildern Josephs Geschichte allerdings ebenso lieb- wie einfallslos: Während man mit einer Fülle von Informationen überschüttet wird, zeigen die Aufnahmen den Jungen beim Kochen - als hätte es nie Erkenntnisse zur Text/Bild-Schere gegeben. Joseph ist ein interessanter Typ, aber hier bloß Mittel zum Zweck.
„Fortsetzung folgt“ ist die KI.KA-Variante der Nachmittagssendungen von RTL: Hier wie dort wird permanent geredet, weil die Sendungen offenbar auch ohne Bilder funktionieren müssen (Joseph ist vor der Prüfung unübersehbar zappelig, trotzdem muss der Kommentar auf seine Nervosität hinweisen). Vermutlich soll die Zielgruppe nicht zu sehr von den Hausaufgaben abgelenkt werden und wenn schon nicht die Ohren, dann wenigstens die Nase im Schulbuch behalten.
Deshalb wird in Filmen über Behinderte auch immer wortreich erklärt, worin die Behinderung besteht. Ein eingereichter Beitrag aus der WDR-Reihe „neuneinhalb“ über die blinde Larissa endet damit, dass Moderatorin Malin Büttner der 13-Jährigen beim Fernsehen Gesellschaft leistet. Um zu verdeutlichen, wie das Mädchen fern-„sieht“, streift sich Büttner eine Augenbinde über. Larissa ist vermutlich ein großer Fan der KI.KA-Doku-Soaps.
Derartige Kritik mag in einem Bericht über eine Preisfindung unangebracht erscheinen, aber die qualitative Diskrepanz zwischen den Beiträgen der „faulen Gutmenschen“ und den tatsächlich preiswürdigen Einreichungen war frappierend. Welche Geschichten hätte man über Joseph, den Flüchtling, erzählen können; oder über den kleinen Konstantin, einen gehörlosen Jungen, der davon träumt, durch einen Klettergarten zu turnen („Stille im Kopf“, HR). Warum er vorher am Fußballtraining teilnehmen muss, erschließt sich einem nicht so recht, aber dass er sich beim Klettern nicht in Gebärdensprache verständigen kann, erfährt man gleich dreimal. Wenn einem nach 20 Minuten Sendezeit, in denen die Gehörlosigkeit des Jungen permanent Thema ist, schließlich noch mal erklärt wird, dass Konstantin im Klettergarten die Anweisungen nicht hören kann, drängt sich der Verdacht auf: „Fortsetzung folgt“ ist Fernsehen für Begriffsstutzige.
Das noch größere Ärgernis: Konstantin wird ausschließlich über seine Behinderung definiert. Guido Holz (Buch und Regie) konzentriert sich auf all jene Handicaps, die den Jungen von Gleichaltrigen unterscheiden, anstatt die Gemeinsamkeiten zwischen Konstantin und den anderen Jungs herauszustellen.
„Ich!“ wählt einen anderen Ansatz. Die Filme sind nicht immer rundum gelungen, aber sie stellen die Kinder in den Mittelpunkt und bieten so Anknüpfungspunkte für die Zielgruppe. In der Folge „Juliette“ (KI.KA) versucht eine 15-Jährige mit Drogenvergangenheit, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Nicole Janke zeigt in ihrem Film, der zu einem großen Teil aus Bildern besteht, die Juliette selbst mit einer Digitalkamera gedreht hat, wie planlos Mädchen in diesem Alter sein können. Mit Hilfe eines Bildungsprojekts findet sie zurück in die Schulspur.
Wie erfrischend dieser Ansatz ist, zeigt sich beim Gegenentwurf: „Angst im Nacken“ („Fortsetzung folgt“, MDR) erzählt von der 12-jährigen Casey, die in ihrer Schule fortwährend gehänselt und gedemütigt wurde. Caseys Glück - das Mobbing ist Vergangenheit - ist das Pech von Sylvia Koschewski, denn nun müssen die Erlebnisse des Mädchens nachgestellt werden. Leider sind weder Casey noch ihre Mutter gute Darstellerinnen ihrer selbst, und spätestens, wenn dem Mädchen auf dem Weg zur Schule dekorativ eine Träne die Wange runterrollt, führt man sich unangenehm an die Darbietungen der Laiendarsteller aus der erfundenen Realität der Nachmittagsformate von RTL erinnert.
Kein Wunder, dass am Ende fiktionale Produktionen ausgezeichnet wurden, auch wenn dem letztlich einhelligen Beschluss eine kontroverse Diskussion vorausging: Eine Weile lang sah es so aus, als könne Willi Weitzel („Willi wills wissen“) nach dem Adolf-Grimme-Preis im Frühjahr eine weitere Auszeichnung fürs „Lebenswerk“ entgegennehmen (er hat zu Beginn des Jahres seinen Abschied vom Kinderfernsehen verkündet). Der Grimme-Preis galt zwar einer Ausgabe über Kunst, würdigte aber ausdrücklich auch Weitzels Wirken für das Kinderfernsehen.
Der Moderator war 2004 der erste Träger des Robert Geisendörfer Preises für Kinderfernsehen und diesmal mit gleich zwei Produktionen aus der Reihe „Willis VIPs“ nominiert. In „Türkisch für Fortgeschrittene“ trifft sich Weitzel mit dem Schauspieler Adnan Maral („Türkisch für Anfänger“), dem Fußballprofi Hamit Altintop und RTL-Moderatorin Nazan Eckes, um mit ihnen auf unterhaltsame (aber auch wenig tiefschürfende) Weise die Unterschiede zwischen deutscher und deutsch-türkischer Kultur zu plaudern. Weitzel ist hier ganz in seinem Element.
Eine Herausforderung ganz anderer Art ist die Begegnung mit dem Auschwitz-Überlebenden Max Mannheimer. Der Film wurde diskutiert wie kein zweiter Beitrag, weil sich die Jury in einer grundsätzlichen Frage nicht einigen konnte. Natürlich gab es Anerkennung für den Bayerischen Rundfunk, der sich mit dem Porträt auch in den Dienst der Mission Mannheimers stellt; der alte Herr hält seit Jahren nimmermüde die Erinnerung an das Grauen der Konzentrationslager wach. Allerdings kommt er in dem Film kaum zu Wort und wird zudem immer wieder unterbrochen, entweder von Weitzel oder durch einen Schnitt.
„Ein starker Gast, aber ein schwacher Moderator, der zudem in Ehrfurcht erstarrt“, lautete die Kritik - und auch noch unhöflicherweise die Hände in der Hosentasche hat, während er sich mit Mannheimer in der Dachauer KZ-Gedenkstätte unterhält. Ähnlich wie bei einer „VIP“-Ausgabe über Anne Frank seien die schweren Themen offenkundig nichts für Weitzel.
Auf der anderen Seite wurde aus Sicht der Zielgruppe argumentiert, denn für die ist Willi der Star. Er kündigt zu Beginn an, dieser Film werde nicht leicht und steigt - kindgerecht - mit dem uralten Auto Mannheimers (ein Tatra) ein. Später tritt Weitzel dann mehr und mehr hinter seinen Gast zurück. Aus Kinderperspektive ist diese Vorgehensweise stimmig, weil allein das beeindruckende Alter Mannheimers automatisch für Distanz sorgt. Weitzels unsicherer Auftritt, sein fast ungeschicktes Verhalten passt außerdem (ob nun gezielt oder unbewusst) zu diesem Thema, das, so ein Juror, „man eben nicht einfach runter erzählen kann“.
Dass dann doch nichts aus dem Preis wurde, lag an einer weiterer Einreichung zum Thema Nationalsozialismus, die nicht auf Vorbehalte stieß. Im Gegensatz zu der gewissermaßen retrospektiven Auszeichnung für Weitzel ergab sich auf diese Weise zudem die Möglichkeit, die KI.KA-Reihe „krimi.de“ zu ehren. Das Titelwortspiel „rEchte Freunde“ deutet bereits an, wie die Geschichte erzählt wird: Es dauert eine Weile, bis sich die Gruppe junger Neonazis, die sich als Fußballverein tarnt, als Rechtsextremisten zu erkennen gibt. Da ist es für den jungen Flo aber schon zu spät, weil er dem Rattenfänger längst auf den Leim gegangen ist.
Die Stärke des Films, der auf einer an der Erfurter Akademie für Kindermedien entstandenen Drehbuchvorlage von Svenja Weber beruht (die letztjährigen Preisträger Anja Kömmerling und Thomas Brinx haben das Buch dann zu einer drehfertigen Version verfeinert), liegt in der realitätsnahen Zeichnung des Gegenspielers: Der Mann ist kein Klischee-Nazi, keine „Dumpfbacke“, sondern ein charismatischer Verführer, der dank der Verkörperung durch Kai Scheve lang als Sympathieträger durchgeht. Der angebliche Fußballtrainer impft einem Jungen, der förmlich nach Anerkennung lechzt, so lange Selbstvertrauen ein, bis der ihm überall hin folgen würde.
Preisträger ist Christoph Eichhorn, der bereits diverse Filme für die KI.KA-Krimireihe gedreht hat. Gerade die jungen Darsteller führt er ausgezeichnet. Handwerklich sind die Krimis in der Regel auf bemerkenswertem Niveau. Dank Inszenierung und Bildgestaltung wird in „rEchte Freunde“ auf subtile Weise Spannung erzeugt. Mutig auch, dass das Ende offen bleibt: Der Verführer scheint zumindest zunächst davonzukommen - das traut sich der „Tatort“ nur selten.
Die andere Auszeichnung stand gleich nach der ersten Sichtung fest: „Der Kleine und das Biest“ ist ein sechs Minuten kurzes, konsequent aus Kinderperspektive erzähltes Stück aus der ZDF-Reihe „Siebenstein“. In dem Zeichentrickfilm erzählt ein kleiner Junge, wie es ist, wenn man mit einem wortkargen, mürrischen Monster zusammenlebt. Nicht jedem wird sich auf Anhieb erschließen, wer sich hinter der zotteligen Gestalt verbirgt: Es ist die nach der Trennung vom Gatten verbitterte Mutter. Erst gegen Ende wird sie sich wieder in die fröhliche, hübsche Frau zurückverwandeln, die sie einst war. Auch der Vater ist ein Opfer der „Verbiesterung“ geworden.
Man ist auf Anhieb entzückt von dieser wundervollen Zeichentrickgeschichte. Neben dem schlichten, aber ansprechenden Design und der schnörkellosen Dramaturgie machen die Details den Zauber und den Charme dieses Kurzfilms aus. Der Film vertraut seinen Bildern, das ist seine Qualität. Die Visualisierung von Zeit und von Gemeinsamkeit sorgt dafür, dass die Geschichte bei aller Komplexität ohne viele Worte und so allgemeingültig umgesetzt werden kann. Mit auch für Kinder verständlicher sanfter Ironie wird das Thema bei aller naheliegenden Betroffenheit höchst unterhaltsam verpackt. Schon beim Prix Jeunesse waren die aus der ganzen Welt stammenden Teilnehmer entzückt, der Film erhielt so viele Stimmen wie kein anderes Werk in der Geschichte des Preises.
Diesen zweiten Preis müssen sich mit Autor Marcus Sauermann und den Regisseuren Johannes Weiland und Uwe Heidschötter gleich drei Preisträger teilen, aber dass sie das überhaupt können, ist der Wolfgang und Gerda Mann-Stiftung zu verdanken. Immer wieder hat die Jury in den letzten Jahren vor dem Dilemma gestanden, eine weitere herausragende Leistung (mal einen Kurzfilm, mal einen jungen Schauspieler) nur mit einer Lobenden Erwähnung ehren zu können.
Die restlichen Einreichungen sind rasch zusammengefasst. Einige begingen den klassischen Fehler, Geschichten über und nicht für Kinder zu erzählen, andere waren braves, solides Kinderfernsehen, durchaus respektabel („Dein Song“, KI.KA/ZDF), aber aus unterschiedlichsten Gründen als nicht preiswürdig erachtet. Gerade in den Casting-Shows für Kinder überträgt sich der Enthusiasmus der jungen Teilnehmer nur selten auf die Zuschauer, aber natürlich werden sie hier ungleich ernster genommen als bei „Deutschland sucht den Superstar“.
Nicht weiter diskutiert wurden auch die neuen Filme aus der ARD-Märchenreihe „Acht auf einen Streich“, weil keiner an den Vorjahrespreisträger „König Drosselbart“ heranreichte. Nominiert waren „Rapunzel“ (RBB), „Dornröschen“ (SWR), „Rumpelstilzchen“ (WDR) und „Die Gänsemagd“ (HR).
Zwei Produktionen sind immerhin auf hohem Niveau gescheitert. Im Unterschied zu ihren sonstigen fröhlichen Abenteuern erzählt Karen Markwardt in einer Sonderausgabe von „Karen in Action“ („Schwarz und weiß - Kein Problem?“, BR) von der Apartheid. Autor Tim Gorbauch macht allerdings einen gravierenden Fehler: Der Film legt nahe, die Weißen seien schon immer in Afrika gewesen, über die Kolonialisierung wird kein Wort verloren. Und bei der zunächst äußerst wohlwollend aufgenommene Reihe „Bei uns und um die Ecke“ (MDR) mehrten sich mit zunehmender Dauer die Zweifel der Jury. Zur Feier des 60-jährigen Bestehens der Grundgesetzes haben sich diverse Autoren Geschichten ausgedacht, die die wichtigsten Artikel gewissermaßen mit Leben füllen. Inszeniert hat die Reihe Grimme-Preisträger Bernd Böhlich („Landschaft mit Dornen“).
Die sechs Geschichten werden als eine Art „Lindenstraße“ für Kinder erzählt und sind anfangs in der Tat lebensnah und pfiffig; die pädagogische Botschaft ist zwar nicht zu übersehen, aber unterhaltsam verpackt. Gerade in den späteren Episoden offenbaren sich jedoch seltsame Schwächen. Unglaubwürdig umgesetzt ist beispielsweise eine Schlüsselszene: Der Chat-Flirtpartner eines Mädchens entpuppt sich als Rollstuhlfahrer. Die Freunde des Mädchens lassen ihren Ressentiments freien Lauf, der Junge wird gemobbt, was das Zeug hält. Das wirkt wenig überzeugend, da die Jugendlichen ausnahmslos einen gehobenen Bildungshintergrund aufweisen und somit schon im Kindergarten gelernt haben, dass man Behinderte nicht ausgrenzen darf.
Im KI.KA-Programm stellt die Szene einen seltsamen Widerspruch dar, denn die Mobber gehören exakt jener Gruppe an, deren Kindheitsentwurf im KI.KA sonst stets als vorbildlich präsentiert wird: weil sie Fahrradhelme tragen, nicht rauchen, nicht trinken, keine Piercings tragen und auch nicht tätowiert sind. Dass sie kein Herz für Minderheiten und Randgruppen haben sollten, verwundert da schon.
Aus: epd medien Nr. 73, 2010