von Klaudia Wick
Unbedingt preiswürdig. Bericht aus der Jury „Allgemeine Programme“
Natürlich bildet das Fernsehen immer auch Themenkonjunkturen ab. Die Saison 2009/2010 war zum Beispiel das Jahr nach der Lehman-Pleite und vor der Sarrazin-Debatte. So zeigte sich das journalistische Angebot der Informationsprogramme geprägt von der Armutsdebatte; Dokumentationen wie „Das Leben ist Hartz“ (ZDF) oder „Die Armutsindustrie“ (ARD), Reportagen wie „Wie gerecht ist Deutschland?“ (ZDF) oder „Wenn Kinder Hilfe brauchen“ (MDR) warfen ordnungspolitische Fragen auf und suchten nach menschlichen Antworten.
Und dann war ja auch „Zwanzig Jahre Mauerfall“! Natürlich füllte die Erinnerung an jenes epochemachende Weltereignis, bei dem das Fernsehen nicht nur Zeitzeuge, sondern auch selbst Motor gewesen war, so manche Sondersendung. Und einige davon waren nun unter den insgesamt 56 Fernsehproduktionen, die von den Sendern in Hoffnung auf einen Robert-Geisendörfer-Preis bei der Wettbewerbsleitung zur Prüfung eingereicht worden waren.
Unterhaltsamkeit und Gefühlsmomente
Die Nominierungskommission, bestehend aus den drei Medienjournalistinnen und -journalisten Diemut Roether, Heike Hupertz und Joachim Huber, hatte lediglich eine RTL-Sondersendung als „Paradebeispiel für das gelungene Presenterformat“ an die Jury weitergereicht: Das „Extra spezial: 20 Jahre Mauerfall“ zeigte mit populären Mitteln, was aus den namenlosen Helden von ’89 geworden war. In der Reportage mit dem aussagekräftigen Untertitel „Was wurde aus den Menschen, deren Bilder damals um die Welt gingen?“ suchten RTL-Newsanchor Peter Kloeppel und „Extra“-Moderatorin Birgit Schrowange Zeitzeugen auf, die sich zuvor auf eine on air-Suchaktion hin bei RTL gemeldet hatten.
Auch wenn die Grundidee, das prominente Ereignis über nicht-prominente Protagonisten in Erinnerung zu rufen, auch bei der Jury verfing, reichte es dann aber nach eingehender Sichtung doch nicht zu mehr als Wohlwollen. Dass die Protagonisten des Spezials auf Unterhaltsamkeit und Gefühlsmomente hin ausgewählt waren, machte das „Extra spezial“ unterhaltsam, aber nicht preiswürdig.
Ebenfalls als der „originellste unter den vielen gelungen Beiträgen“ zum Jubiläums-Spin-Off-Thema „Christen in der DDR“ war die 30-minütige RBB-Dokumentation „Schräg, fromm und frei – Die Kommunarden von Hartroda“ zur Prüfung überstellt worden. Erinnert wurde an eine Landkommune von Behinderten und Nichtbehinderten, die 1978 in Thüringen unter dem schützenden Dach der Kirche gegründet worden war, damit der junge, an Muskelschwund erkrankte Matthias Vernaldi statt im staatlichen Heim unter Freunden und Gleichgesinnten leben konnte.
Aber „schräg, fromm und frei“ ist beileibe keine „Goodfeel“-Story: Vom Gründungstag an wurde die Gemeinschaft als politisch subversiv von der Stasi observiert, wie Matthias Vernaldi heute im IM-Bericht „Parasit“ nachlesen kann. Der Film von Marion Schlüter-Mittri und Tom Franke fächert sein Thema geradlinig auf, verdeutlicht die große gesellschaftliche Dimension im „kleinen Einzelfall“ und profitiert von dem sympathischen und eloquenten Hauptprotagonisten. „Im besten Sinne bodenständig gemacht“, befand die Jury, fragte sich aber auch, ob die „Pars pro Toto“-Herangehensweise dem Protagonisten im Letzten gerecht wird.
Beklemmend dicht
Die sorgsam gemachte Dokumentation „Mutig gegen Marx und Mielke. Die Christen in der DDR“ (MDR) hatte bei der Vorauswahl trotz „gut ausgewählter Zeitzeugen“ kein Ticket zur Weiterreise in die Hauptjury erhalten. Denn es gab ja nicht nur „20 Jahre Mauerfall“, auch die Ereignisse auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ waren im Juni 2009 20 Jahre her. Die Dokumentation von Thomas Weidenbach und Shi Ming „Tiananmen“ (WDR/NDR) erinnerte aus Sicht der Opfer an das Massaker.
Die Autoren fügen Augenzeugenberichte und eine überwältigende Menge von Amateurvideoaufnahmen zusammen und lassen so ein beklemmend dichtes Bewegtbild entstehen, das vor der Nacht zum 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens seinen Ausgangspunkt nimmt und in der Jetztzeit seinen vorläufigen Schlusspunkt findet: Die, die das Massaker überlebten und sich in der Rückschau an das brutale Vorgehen der chinesischen Staatsmacht erinnern, leben heute alle im Exil. „Tiananmen“ sei, so schreibt die Jury in ihrer Begründung für den diesjährigen Robert Geisendörfer Preis, „eine leise, aber radikale Kritik an der Diktatur. Und es ist eine Parabel, wie der Funke der Hoffnung zündet, Zuversicht Raum gewinnt und zur Herausforderung des Machtapparates wird“.
Der zweite diesjährige Robert Geisendörfer Preis der Kategorie Fernsehen bildet gewissermaßen das thematische Gegenwicht zur großen Politik, wie sie in „Tiananmen“ verhandelt wird. Das Fernsehspiel „Die Drachen besiegen“ ist auf den ersten Blick ein kleiner, privater, familiärer Film: Die 17-jährige Anna (Amelie Kiefer) wird ohne eine Rückenmarksspende nicht weiterleben können, die Suche nach dem geeigneten Spender wird zum Rennen gegen die Zeit.
Ein Film über Gottvertrauen
In dieser angespannten Situation hört Mutter Sabine, anrührend gespielt von Gabriela Maria Schmeide, von der Möglichkeit, im Reagenzglas ein Geschwisterkind mit den geeigneten genetischen Merkmalen zu zeugen, mit dessen Nabelschnurblut ihre Älteste gerettet werden könnte. Vater Martin ist dagegen, Michael Fitz spielt den gottesfürchtigen Niederbayern mit ähnlich großer Einfühlung. „Aber das Buch von Rodica Döhnert lässt die beiden mit ihrer schweren Entscheidung nicht allein, die Regie von Franziska Buch orchestriert die vielen möglichen Haltungen zur PID zu einem vielstimmigen Chor“, schreibt die Jury in ihrer Preisbegründung. Am Ende dieses eindrücklichen Films bleibe der Zuschauer nachdenklich, aber nicht ratlos zurück: ‚Die Drachen besiegen‘ ist nämlich nicht nur ein Film über PID, sondern auch einer über Gottvertrauen.“
Lange hatte die Preisträgerproduktion „Die Drachen besiegen“ in der Jurydiskussion Konkurrenz in Gestalt der WDR-Produktion „Von Woche zu Woche“ gehabt. Auch dies eine Familiengeschichte, die aber ein weit alltäglicheres Problem leichtfüßig und gegenwärtig thematisiert: Die Eltern des kleinen Felix werden sich trennen. Sie wollen dabei alles richtig machen und zerreißen dabei doch beinahe ihr Kind. Autorin Silke Zertz hat das Thema Scheidungskind als Tragikomödie angelegt, Regisseur Martin Gies vergisst über seiner amüsanten Inszenierung aber nicht die Dramatik des Problems.
Felix führt auf einmal zwei halbe Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten: In der einen Woche will Mutti ständig mit ihm spielen. In der anderen drängt der vielbeschäftigte Papa den Siebenjährigen zur Selbstständigkeit. Auch wenn die Jury „Woche für Woche“ sehr sympathisch in Anliegen und Stil fand, reichte es dann doch nicht zu mehr. Ähnliches galt auch für „Kuckuckszeit“ von Johannes Fabrick: Das Thema „Sozialer Abstieg durch Überschuldung“ sei brennend aktuell, fanden viele Juroren, die präzise Schilderung der Problematik vorbildlich, aber insgesamt wirkte doch alles zu paradigmatisch: „Wie abgefilmt“, formulierte ein Juror sein Unbehagen.
Faszinierendes Filmporträt
Im Segment der nominierten Dokumentationen hatte die RBB/ARTE-Produktion „24 Stunden Berlin – Ein Tag im Leben“ von vorneherein herausgestochen. Noch bevor die Sichtung der Einzelbeiträge begann, hatte sich die Jury bereits einvernehmlich darauf verständigt, den Initiator und künstlerischen Leiter Volker Heise in diesem Jahr mit einem Sonderpreis zu ehren.
Im Wettbewerb konkurrierte die Ausnahmeproduktion somit nicht mehr mit den Einzelstücken, unter denen lediglich noch „Frau Walter Jens“ eine längere Kontroverse in der Jury auslöste: Einerseits schien die Langzeitbeobachtung von Inge Jens und ihrem Mann Walter Jens vielen ein „faszinierendes Filmportrait“ zu sein, andererseits erkannten einige Juroren darin auch eine Instrumentalisierung von Walter Jens, der bekanntermaßen demenzerkrankt sich nicht mehr selbstständig für die Filmarbeit entscheiden konnte. Ohne den bekannten Protagonisten wäre aber „Frau Walter Jens“ wohl aber „nur“ ein Film über die Angehörigenproblematik von Alzheimerpatienten. Statt Promi-Bonus vergab die Jury hier deshalb letztlich einen Promi-Malus.
Weit abgeschlagen landeten die beiden TV-Dokumentationen „Die dünnen Mädchen“ (3sat) über die Therapie essgestörter Mädchen und „Tanz mit Zeit“ über eine Theaterproduktion von vier ehemaligen Balletttänzern. Beide Stücke wirkten auf die Jury sehr hermetisch: Ein emotionales Interesse an den Protagonisten wird beim Zuschauer in beiden Fällen vorausgesetzt, statt die Empathie mit einer professionellen Exposition nachhaltig zu wecken. „Warum muss ich mir das ansehen?“, fragte ein Jurymitglied und brachte damit die handwerkliche Kritik auf den Punkt.
So wenig sich diese beiden Dokumentationen um Publikumsakzeptanz zu bemühen schienen, so sehr verriet die ProSieben-Produktion „Sido geht wählen“ ihr „ernstes“ Thema an eine allzu launige Aufbereitung. Die naiv braven Fragen des Exskandalrappers hatten während der Sichtung für Heiterkeit in der Runde gesorgt. Aber eben nicht für mehr.
Im Wettbewerb „Hörfunk“ waren in diesem Jahr 22 Beiträge eingereicht worden, darunter mit den aktuellen Programmen der „Morningshow“ und der „Nightlounge“ von big FM zwei Formate von einem Privatsender, die allerdings beide nicht den Weg in die Endausscheidung gefunden hatten. So wurde der Wettbewerb einmal mehr unter den bekannten Leistungsträgern des öffentlich-rechtlichen Systems ausgetragen. Diese Programme waren durchweg handwerklich tadellos produziert und stilistisch variantenreich.
So experimentierte das MDR-Feature „Wir dachten, die erschießen uns alle“ von Henry Bernhard mit einer Stimmenvielfalt, die oft für den Zuhörer kaum zu unterschieden war. Die wohl bewusst provozierte Orientierungslosigkeit des Publikums korrespondiert mit dem Thema: „Wir dachten, die erschießen uns“ erinnert an den Fall der Mauer aus der Perspektive von DDR-Häftlingen. Die bemerkten die politischen Veränderungen am veränderten Verhalten ihrer Wärter, hörten aus deren Erzählungen schließlich von der neuen Freiheit, blieben aber selbst eingeschlossen und wussten lange nicht, was mit ihren passieren würde. So interessant diese „Parallelperspektive“ thematisch auch war, so mühsam war es dann doch für den Zuhörer, dem Stimmengewirr des Features zu folgen.
Gut durchkomponiert
Das BR-Feature „Ashan wartet auf Asyl“ von Justina Schreiber funkte aus einer ganz anderen „Parallelgesellschaft“: Die Reportage stellt eine irakische Flüchtlingsfamilie vor, die in einem Münchner Containerlager lebt. Die Protagonisten sind sehr gut ausgewählt, vor allem die Kinder erzählen warmherzig und lebendig von ihrem komplizierten Alltag im Containerlager. Das Feature punktet mit einfühlsamen Sprechern, die zwischen den O-Tönen und Reportageelementen auch erklärende Informationen zum Asylrecht bereithalten. Die Jury zeigte sich erfreut über das durchweg hohe Niveau der Wettbewerbsbeiträge, war aber nicht völlig überzeugt, hier schon einen Preisträger gehört zu haben.
Auch die Reportage „Gleis 1. Die Suchtkrankenhilfe Wuppertal“ vom Deutschlandfunk entfaltet ihr Thema als gut durchkomponiertes Feature. Die Reportage von Dieter Jandt und Fabian von Freier ließ weder emotionale noch sachliche Fragen offen, warf freilich auch keine neuen auf.
„Papageno in Chile“, das NDR-Feature von Jutta Jacobi und Nikolai von Koslowski über einen ehemaligen Wiener Opernsänger, der nun in Chile Biorinder züchtet, war schließlich schön anzuhören, provozierte dagegen die Statutenfrage: Wie lässt sich diese skurrile Kulturaussteigerstory mit den spezifischen Auswahlkriterien aus der Satzung (Verantwortungsbewusstsein stärken, zum gesellschaftlichen Miteinander aufrufen, christliche Orientierung vertiefen, zur Achtung der Geschlechter beitragen, den Stimmlosen eine Stimme geben…) in Einklang bringen?
Kritische Mehrheit
So fiel es der Jury beim Anhören schließlich leicht, ihre beiden Favoriten auszumachen: Das RBB-Feature mit dem etwas unbehauenen Titel „Herbst ’89, Gethsemane-Kirche Berlin, Protokolle einer friedlichen Revolution“ basiert auf erst kürzlich wiedergefundenen Tonaufnahmen, welche die Friedensgebete in der Berliner Gethsemane-Kirche zwischen dem 1. und 9. Oktober 1989 dokumentieren. Die Autorinnen Claudia Klein und Sabine Smit verzichteten in ihren fünf ruhigen Tonkompilationen auf eine kommentierende oder erklärende Einordnung und geben so erst recht den demonstrierenden und betenden Kirchenbesuchern eine eindringliche Stimme.
Gelegentlich hört man bekannte Tonlagen heraus – von der späteren Behördenchefin Marianne Birthler oder dem damaligen Bischof Gottfried Forck. Oft aber spricht hier jene kritische Mehrheit, die nicht mehr schweigen will.
Gerade nach der medialen Flut der Erinnerungsbeiträge im Jubiläumsjahr waren die Juroren teils selbst überrascht, hier NICHT mit Übersättigungsgefühlen innerlich abzuschalten, sondern mit großer Neugier und Konzentration zuzuhören. „Unter bewusstem Verzicht auf schnelle Toncollagen und Zitatfetzen“, lobt die Jury in ihrer Preisbegründung, „vertraut die Redaktion voll auf die Wirkung des einzigartigen Originaltonmaterials. Sie blendet Gesang und Gebet nicht aus, die die friedliche Revolution in der damaligen DDR stets begleiteten und beschützten.“
Auch bei der Anhörung von „Der Assistent“, dem einzigen eingereichten Hörspiel des Jahrgangs, hätte man im Tagungsraum der Jury eine Stecknadel fallen hören können. Die WDR-Produktion von Paul Plamper und Nils Kacirek dramatisiert eine tausendfach erlebte Abhängigkeitssituation. In weniger als einer Stunde Erzählzeit lotet „Der Assistent“ die Arbeitsbeziehung zwischen der schwerstbehinderten Sabine und ihrem neuen Assistenten Daniel in all ihrer emotionalen Komplexität aus.
Durch die Dialog-Improvisationen mit Laien und Schauspielern verleiht die Regie dem Hörspiel eine sogartige Authentizität, die die ohnehin spannungsgeladene Geschichte stilistisch maßgeblich unterstützt. „Was ist echte Nächstenliebe? Wie hilflos kann ein Helfer sein?“, schreibt die Jury in ihrer Laudatio. „Wie mutet es an, wenn Stumme plötzlich doch Stimme haben? Wenn sie laut werden, wenn sie ihre physischen Nachteile nicht gelten lassen? Wenn sie für Hilfe bezahlen wollen, aber unterwürfige Dankbarkeit schlicht verweigern? Dass dieses Hörspiel in uns solche Fragen weckt, ist unbedingt preiswürdig im Sinne Robert Geisendörfers.“
aus: epd medien 73/2010