Karl Prümm, Professor für Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg
Der Wert des Details
Laudatio auf den Sonderpreisträger Edgar Reitz
Der Autorenfilm und die Aufbruchsbewegung nach dem Oberhausener Manifest vom Februar 1962 – das ist die Heimat von Edgar Reitz. Von hier gehen alle seine Überlegungen und Initiativen aus, und zu diesen Ursprüngen kehrt er immer wieder zurück. „Manchmal habe ich das Gefühl, damals erst geboren worden zu sein“, bekennt er Mitte der 1980er Jahre.
Fürwahr identitätsstiftend waren diese Jahre. Hier hat Edgar Reitz Grundüberzeugungen formuliert, die bis heute seine Konstanten geblieben sind. Dass es im Kino allein auf die „Autoren“ ankommt, um „Filmkunstwerke“ hervorzubringen, dass folglich alles auf die „Vorstellungswelt“ dieser „schöpferischen Individuen“ abgestellt sein muss, auf die umfassende Verantwortung des Regisseurs, dass die traditionellen Muster von „Papas Kino“ sich als katastrophal untauglich erwiesen haben und neue Formen des filmischen Erzählens zu entwickeln seien, in denen das Publikum seine wirklichen Erfahrungen wiederfinden kann, Formen, die zugleich das Kino als einen utopischen Ort einer einzigartigen Weltwahrnehmung lebendig halten – das sind Positionen, die Edgar Reitz damals im Chor mit vielen anderen vielfältig verkündet hat und die für ihn bis heute verbindlich geblieben sind.
Lustvolle Beweglichkeit
Auffällig ist dabei, dass er jeder Dogmatik, die sich hier leicht hätte einstellen können, entgangen ist. Edgar Reitz blieb, obwohl er schon früh Erfolg hatte und seit 1963 als Leiter des Instituts für Filmgestaltung in Ulm institutionelle Verantwortung übernahm, ein unruhiger und rastloser Geist. Er meldete sich immer dann zu Wort, wenn er den Eindruck hatte, dass der Junge deutsche Film in Selbstzufriedenheit zu erstarren drohte, und stellte selbst das in Frage, was als unverrückbar erschien – die geschlossene Kinoprojektion eines abendfüllenden Spielfilms.
1964/65 erprobte er zusammen mit Alexander Kluge ein Simultan-Projektionssystem mit 120 beweglichen Leinwänden. „Varia-Vision“ nannten das die beiden. 1970 eröffnete er zusammen mit Ulla Stöckl in München ein Kneipenkino, in dem die Besucher ihr Filmprogramm mit kleinen Häppchen und Miniaturen à la carte zusammenstellen konnten. Keiner der Oberhausener Mitstreiter dachte so konsequent wie Edgar Reitz über die Kinostandards hinaus. Eine lustvolle Beweglichkeit der Bilder und der Geschichten, die den Alltagswelten der Zuschauer nahe bleiben, hatte er stets im Auge.
Schon 1968 träumt er auf sein großes Lebensprojekt voraus, spricht von einem „500-Minuten-Film mit romanartiger Handlung von wirklich epischen Dimensionen, eine Gattung, die das Kino nie hervorbringen kann“. Früh deutet sich also ein Medienwechsel an, eine Zuwendung zum Fernsehen, das Edgar Reitz zunächst wie alle Oberhausener radikal abgelehnt hat, dem er 1969 vorwirft, ein „obrigkeitliches“, „verwaltungsmäßiges“ und damit „totes“ Programm hervorzubringen. Im Laufe der 1970er Jahre erkennt er jedoch, dass gerade dieses Alltagsmedium der geeignete Ort sein könnte, an dem sein Konzept der filmischen Erinnerung, das er in dieser Zeit ausarbeitet, zur Geltung kommen kann.
Das Fernsehen als der geeignete Ort
Edgar Reitz, der seine Filmkarriere als Kameramann begonnen hatte, besinnt sich auf das Vermögen seines Instruments, die Welt zugleich genau zu registrieren und poetisch zu verwandeln. Die Kamera, so führt er in seiner immer eindringlicheren Theorie aus, sei wie die menschlichen Sinne immer auf das Detail gerichtet, auf den „jeweiligen Moment, auf das aktuelle Leben“. Dieses Vermögen der Apparatur, die „Vertiefung in die Dinge“ und ihre „Entrückung“ in einen anderen Raum und eine andere Zeit, müsse man sich zunutze machen, um in der filmischen Rede der überall drohenden Abstraktion und der schrecklichen Verallgemeinerung zu entgehen.
In dieser weit ausgreifenden Theorie bestimmt Edgar Reitz die Kamera als das ideale Medium einer Erinnerungsarbeit, in der die konkreten Dinge rehabilitiert und wie in einer Geste des Abschieds noch einmal beschworen werden. Konsequenterweise gerät das Fernsehen in seinen Blick, denn es hat für eine solche Inszenierung der Erinnerung große Zeitressourcen und Programmflächen zu bieten. Seit dem Ende der siebziger Jahre investiert Edgar Reitz sein Pathos des Autorenfilms, seine Lust am Experimentieren und Fabulieren in dieses Medium.
In einem historisch entscheidenden Moment, kurz vor der Einführung des privaten Fernsehens, als vorauseilende Angst vor der kommenden Konkurrenz, Hysterie und Ratlosigkeit die Medienszenerie beherrschen, gelingt es ihm, die Programmverantwortlichen von seinem Erinnerungsvorhaben zu überzeugen. Am 30.4.1981 beginnen die Dreharbeiten zu „Heimat“ – wir wissen, was daraus geworden ist: das wohl größte Projekt der Fernsehgeschichte, eine Trilogie, ein Zyklus von insgesamt 30 Filmen.
Es ist vielleicht das gewichtigste Verdienst dieses großen Epos, dass es vor Augen führt, was das Fernsehen zu leisten vermag, wenn es seine Potenziale nicht an die Soap-Operas, Telenovelas und Endlosserien verschleudert. „Heimat“ ist der lebendige Beweis für ein anderes, ein mitreißendes und beglückendes Erzählfernsehen. Hier öffnet sich dem Zuschauer ein Universum, hier wird mit großen Bögen, langem Atem und wechselnden Rhythmen erzählt, hier entfaltet der Film sein eigenes Gedächtnis. So bekommen die Figuren eine Farbigkeit und Präsenz wie in keiner anderen erzählerischen Form.
Nicht nur dies macht die absolute Singularität aus. Es gibt keine anderen Texte, Filme oder Bilderzyklen, die so entschieden den Anspruch erheben, eine Chronik des zwanzigsten, des von den Deutschen so unheilvoll geprägten Jahrhunderts zu sein. Maria Simon, die Hauptfigur von „Heimat I“ ist 1900 geboren, ist so alt wie das Jahrhundert, ebenso wie der Glasisch Karl, der verdreckte Dorftrottel, den sich jeder vom Leibe hält und den Edgar Reitz zum zärtlichen Chronisten und Erzähler macht. Und am Ende von „Heimat III“ blickt Lulu, die Tochter von Hermann, in der Sylvesternacht 2000 voller Angst aus dem Fenster des Günderode-Hauses in das neue Jahrtausend.
Die Realität neu entdeckt
Zwischen diesen Polen wird die deutsche Geschichte aus einer ungewöhnlichen Perspektive auf neue Weise rekapituliert, und Edgar Reitz scheut das Risiko nicht, auch jene Geschichten von Vereinigung und neuer Trennung, die noch in vollem Gange sind, auszuerzählen. In allen Teilen der Trilogie gibt es eine produktive Spannung zwischen der großen Form und dem Detail. „Heimat“ ist ja nicht nur eine allumfassende politische Chronik, die Erinnerungsarbeit eines ambitionierten Erzählers, es ist zugleich auch Familienepos, Dorfgeschichte, Generationenporträt und – nicht zu vergessen – Künstlerroman.
„Heimat“ ruft, vielleicht zum letzten Mal, das Repertoire der deutschen Romantik auf, kreist in vielen Teilen um den ringenden, für seine Mission kämpfenden Künstler, ist ein Film ganz aus dem Geist der Musik die Klangwucht der Erkennungsmelodie von Nikos Mamangakis macht es unmissverständlich deutlich. Doch diese großen Formen werden immer ausgeführt durch das winzige Detail und durch den unscheinbaren Moment. So leistet die Trilogie nichts weniger als eine Wahrnehmungsverschiebung. Sie entdeckt Realitäten neu.
Eduard Simon, das lungenkranke Sorgenkind, verpasst schlichtweg, obwohl er sich in Berlin aufhält, den 30. Januar 1933, der für ihn, den späteren Mitläufer, Mittäter und Profiteur des Regimes zum Lebenswendepunkt werden sollte. Am gleichen Abend wird er Zeuge, wie ein Krankenwagen einen Herzschlagpatienten abtransportiert. Das erschüttert ihn, der so oft auf der Kippe zum Tod stand, tief. Und gleich danach erliegt er der Illusion, Lucie, die Bordellchefin, sei in selbstloser Liebe zu ihm entflammt.
Die privaten Gefühle überlagern völlig die große Politik. Und so übernimmt Eduard, als er in Schabbach als vermeintlicher Augenzeuge befragt wird, die offiziellen Phrasen von der deutschen Revolution. Die Chronik von Edgar Reitz ist wie in den Filmen der italienischen Neorealisten, deren Erbe hier fortgeführt wird, immer eine Erzählung der Nähe und des konkreten Lebens.
Am wirkungsmächtigsten sind daher auch die kleinen Gesten und die unscheinbaren Momente: Die Anziehung und die Annäherung von Maria und Otto Wohlleben in „Heimat I“, die Gipsarm und Stützapparat überwinden müssen, die zufällige Begegnung von Evelyne und Ansgar in einem dunklen, fremden Raum, ihr Sich-Verlieben nur über die Stimmen und das Sprechen in „Heimat II“, die Tochter von Gunnar Brehme in „Heimat III“, die ihre Zuneigung zum verlorenen, sächselnden Vater wiederentdeckt, den die Familie nur noch als peinliche Vergangenheitslast von sich wegschieben möchte.
Die Zuschauer von „Heimat I“ haben damals sofort begriffen, dass der Hunsrücker Dialekt diese Nähe und Konkretheit repräsentiert, jenen austauschbaren Wahrnehmungsfilter darstellt, der den Blick auf die Welt in allererster Linie und auf ganz entscheidende Weise prägt. Sie haben im fremden und befremdlichen Idiom ihre eigenen Erfahrungen entziffert.
Heimat als sinnliche Erscheinung
Einen größeren Erfolg kann es für einen Ich-Erzähler nicht geben. Edgar Reitz ist es gelungen, Heimat in ihrer ganzen Ambivalenz zur sinnlichen Erscheinung zu bringen. Wir erleben, wie die Dialektsprache die Dinge scheinbar noch ohne Risse umhüllt und umfängt, wie diese Sprache aber auch zur beengenden Last werden kann. „Wir werden den Hunsrück schon noch besiegen“, verspricht der Münchner Sprachlehrer dem verzweifelten Hermann, der mühsam lernen muss, „Ich“ statt „Isch“ zu sagen. Bilder vom verlorenen dörflichen Paradies, die wir alle in uns tragen, werden wachgerufen, ohne dass die Sentimentalität obsiegt. Zu klar treten Borniertheit, Missgunst und Ausgrenzung des Fremden hervor.
Selten hat es historische Filme gegeben, in denen die Unmittelbarkeit des Vergangenen bei allem artistischen Kalkül so selbstverständlich, so wenig gekünstelt und gestellt wirkte wie in „Heimat“. Dass Sie, verehrter Herr Reitz, für die bezwingende Genauigkeit der Sprache und für die oft betörende Sinnlichkeit der Bilder so herausragende Drehbuchautoren wie Peter Steinbach und Thomas Brussig, so einfallsreiche Kameramänner wie Gernot Roll und Thomas Mauch für eine Kooperation begeistern konnten – auch dafür möchte ich Sie rühmen. Zum Robert Geisendörfer Preis gratuliere ich Ihnen ganz herzlich.