Laudatio von Prof. Dr. Paul Nolte auf die Sonderpreisträger (Es gilt das gesprochene Wort)
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich gestehe es gern: mit dem Ersten Weltkrieg hatte ich immer Schwierigkeiten. Als Historiker haben mich schon seit Studententagen andere Themen gefesselt – nein, auch nicht der Zweite Weltkrieg oder der Amerikanische Bürgerkrieg; überhaupt kein Krieg. Kriegshistoriker, das waren die anderen, die eine Faszination für das Militär auch persönlich verspürten und manchmal auf unangenehme Weise ausstrahlten; überwiegend Angehörige einer älteren Generation, eine scheinbar aussterbende Spezies. Die Distanz zu diesem Gegenstand und zu der Aura, die er verströmte, war also nicht nur fachlich begründet, sondern zugleich sehr persönlich. Wie sollte man als Kriegsdienstverweigerer in der Bundesrepublik der achtziger Jahre, als Kind von Kriegskindern, als Enkel von Großeltern, die nur verschwommen vom Krieg erzählten, von beiden Kriegen, eine innere Nähe zu diesem Thema verspüren? Umso mehr freue ich mich und fühle ich mich geehrt, heute diese kleine Laudatio auf eine große Fernsehproduktion halten und den drei Preisträgern und mit ihnen dem ganzen vielköpfigen Team zu dem diesjährigen Sonderpreis der Jury des Robert Geisendörfer Preises gratulieren zu dürfen.
Mit meinem eigenen Verhältnis zum Ersten Weltkrieg beginne ich nicht aus Eitelkeit, sondern weil es generationstypisch und überhaupt symptomatisch war für den jahrzehntelangen Umgang der Deutschen mit diesem globalen Epochenereignis des 20. Jahrhunderts. Nach Niederlage, Revolution und Gründung der Weimarer Republik hat der Krieg dieses Land geradezu obsessiv beschäftigt: die „Schmach“ des Versailler Friedens, obwohl man den Russen in Brest-Litowsk mindestens ebenso Hartes zugemutet hatte; die „Dolchstoßlegende“: war der Krieg überhaupt an der Front verloren? Auch die koloniale Größe des Deutschen Reiches war dahin, und Hitler versuchte sie als „Lebensraum im Osten“ ersatzweise wiederzugewinnen. Nur einundzwanzig Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs begann Deutschland einen zweiten Krieg, der noch brutaler, noch mörderischer war – obwohl ein solcher Komparativ einem im Halse stecken bleibt, wenn man die Bilder und Worte der „14 Tagebücher“ im Kopf hat. Lässt sich die Hölle überhaupt noch steigern?
Aber unzweifelhaft geriet der Erste Weltkrieg in Deutschland in den Schatten des Zweiten und – je länger, desto mehr! – in den Schatten des Holocaust. Bei vielen unserer europäischen Nachbarn ist das anders. Dort ist der Erste Weltkrieg der „Große Krieg“, la grande guerre, the Great War, geblieben, als den die Zeitgenossen ihn bezeichneten, als es einen zweiten noch nicht gab. Die Erinnerung, im privaten und lebensgeschichtlichen ebenso wie im öffentlichen und politischen Raum, blieb dort auch nach 1945 ungleich präsenter als im geteilten Deutschland. Bei uns war die private Erinnerung verdrängt oder überlagert von den Erfahrungen von 1939 bis 45; die öffentliche erkaltet zu vergessenen und überwucherten Kriegerdenkmälern und rituellen, summarischen, anonymen Beschwörungen der „Toten beider Weltkriege“ am Volkstrauertag.
Als man sich für den Ersten Weltkrieg wieder zu interessieren begann, in der Wissenschaft ebenso wie in öffentlicher Debatte, geschah das unter einem Vorzeichen, das bis heute, wie der Streit um Christopher Clarks Buch über die „Schlafwandler“ zeigt, prägend geblieben ist: der Frage nämlich nach den Mechanismen der großen Politik und der Kriegsschuld. Die Bundesrepublik und ihre kritische Öffentlichkeit überwanden seit den sechziger Jahren die Vorstellung, alle seien irgendwie in diesen Krieg „hineingeschlittert“, und nahm in einem Maße, das durch die differenzierte historische Wirklichkeit nicht vollständig gedeckt war, die Schuld, auch diese Schuld, für sich an – übrigens ein durchaus protestantischer Grundzug in der politischen Kultur unseres Landes. Damit hatten wir dann aber auch, so schien es, unsere Schuldigkeit getan. Näher musste man sich für den Ersten Weltkrieg nicht interessieren.
Schon gar nicht für seine Menschen und ihre Erfahrungen, wenn sie nicht Hindenburg und Ludendorff und Bethmann Hollweg hießen. Das war keine Besonderheit verengter Erinnerung an diesen Krieg; es galt auch für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust und hier für die Opfer noch mehr als für die lange Zeit gleichfalls namenlos gebliebenen Täter. Es war eine Fernsehproduktion, die US-amerikanische Mini-Serie „Holocaust“, die am Ende der siebziger Jahre einen Perspektivenwechsel gerade auch in Deutschland einleitete und uns die Welt mit den Augen der fiktiven jüdischen Arztfamilie Weiss sehen ließ. Im Lichte der „14 Tagebücher“ erscheint es merkwürdig, dass wir damals den Umweg über die Fiktionalisierung nehmen mussten, wo doch authentische Erfahrungen, Zeitzeugen, persönliche Aufzeichnungen überreich vorhanden waren, wenn man nur danach gesucht und gefragt hätte.
Inzwischen lassen sich die Kinder des Zweiten Weltkriegs nur noch als alte Menschen befragen, die des Ersten praktisch überhaupt nicht mehr. Diese chronologische und demographische Konstellation jedoch hat die „14 Tagebücher“ erst möglich gemacht mit ihrer kunstvollen Verbindung von Tagebuchtexten und Spielszenen. Es wird wohl noch einige Zeit vergehen, bis etwas Vergleichbares für den Zweiten Weltkrieg realisiert werden kann. Das heute hier ausgezeichnete Projekt bringt Erinnerung und verlorene Erfahrungen sehr spät zurück, aber nicht zu spät und auch nicht zufällig mit so beträchtlichem Abstand.
Dabei spielt, natürlich, der Zufall der runden Zahl eine wichtige Rolle. Das „Jubiläum“ des Kriegsausbruchs hat uns in diesem Jahr überrollt – angesichts der medialen Mechanismen von Jahrestagen nicht unerwartet, aber doch, so glaube ich jetzt schon sagen zu können, mit tieferer Prägekraft und größerer Nachhaltigkeit als man vor zwölf Monaten annehmen konnte. Nicht nur Journalisten nähren sich von einem solchen Jubiläum; auch Historiker und Verlage richten ihre Lebensplanung oft Jahre im Voraus danach aus. Dem verdanken wir neue, aber eben nicht nur jubiläumsgerechte Bücher wie das Clarks oder die Darstellungen des Ersten Weltkriegs von Jörn Leonhard und Oliver Janz, der ja zugleich wissenschaftlicher Berater der „14 Tagebücher“ war. Es gibt also keinen Grund, eine Kluft zwischen „Wissenschaft“ und „Medien“, geschweige denn zwischen Seriosität und Popularisierung zu sehen.
Von den Besprechungen der 14 Tagebücher, die ich gelesen habe, hat nur die „taz“ „ein paar saturierte Geschichtswissenschaftler“ vermisst, „die einem erklären, wie der Hase wirklich lief“. Ich muss gestehen, ich habe meinesgleichen über 432 Minuten hinweg nicht vermisst. Geschichte braucht Wissenschaft, auch die Universitäten und den „Elfenbeinturm“, aber sie ist längst zu einer vielstimmigen Angelegenheit geworden. Die auktoriale Stimme der professionellen Historiker ist nur eine unter vielen, und die Rolle des Fernsehens in der Geschichtsvermittlung ist es gewiss nicht, mir und meinen Kolleginnen ein zusätzliches Outlet der Darstellung zu verschaffen. Die vielen Erschaffer der „14 Tagebücher“ haben den Menschen eine Stimme und ein Gesicht gegeben, die diese vierzehn Tagebücher und tausende andere geschrieben haben, und zehn Millionen Menschen, die in diesem Krieg jämmerlich vor die Hunde gegangen sind.
Diese Stimmen hören wir und werden sie, dank Jan Peter, Yury Winterberg, Gunnar Dedio und allen anderen Mitwirkenden, noch lange hören: von dem österreichischen Bauern Karl Kasser, dem Fassmacher Louis Barthas aus dem Languedoc, der Mädchen Elfriede Kuhr aus Schneidemühl und Marina Yurlova, die auf der Suche nach ihrem Vater mit den Kosaken in den Krieg zieht. Die Vielstimmigkeit der „14 Tagebücher“ geht in ihrer Vielsprachigkeit nicht auf, und die Weite der europäischen Perspektive nicht in der Addition nationalspezifischer Erfahrungen. Denn so wichtig es ist, den Krieg aus Deutschland mit französischen oder russischen Augen, oder aus Frankreich mit österreichischen Augen zu sehen: die Erfahrungen und das Leiden der Menschen halten sich nicht an diese Kategorien. Mich beeindruckt an den „14 Tagebüchern“ besonders die Balance, die von Folge zu Folge gehalten wird: zwischen den Perspektiven verschiedener Länder, ohne sie zu nationalen Klischees gerinnen zu lassen, und den ganz individuellen Wahrnehmungen, ohne die Kriegserfahrung in der Trivialität des Allgemein-Menschlichen zum Verschwinden zu bringen. Und noch mehr kunstvoll gehaltene Spannungen: zwischen Emotionen und Nüchternheit, zwischen Identifikationsangebot und Distanzierung, zwischen Schwarz-Weiß und Farbe.
Mit dem Sonderpreis für diese europäische Produktion unterstreicht der Robert Geisendörfer Preis die Bedeutung des Fernsehens, das ja längst ein „altes Medium“ geworden ist, für die öffentliche Aufklärung, für die politische Bildung über Geschichte und Gegenwart. Und noch besser ist: Bei den „14 Tagebüchern“ kann man das ganz unpathetisch sagen, so unpathetisch und deshalb überzeugend die eindringlichen, bald auch erschreckenden und verstörenden Bilder auf uns wirken, und nicht zuletzt die Stimmen der Menschen in den Tagebüchern und Briefen selber. Die „14 Tagebücher“ brauchen deshalb auch heute, in ihrer besonderen Würdigung, kein Pathos.
Wenn ich mir das mit einem Seitenblick auf die Begründung der Jury erlauben darf: ein „universeller Antikriegsfilm“ ist das gewiss. Aber brauchen wir das ostentative „Anti“? Ich habe einen universellen Kriegsfilm gesehen, in aller schonungslosen Direktheit. Die politische Botschaft mag jeder für sich selber entnehmen. Das gilt zumal im Krisen- und Kriegsjahr 2014, in dem die Realität das hundertjährige Gedenken einzuholen droht. Das ist, wenn ich es richtig verstehe, ganz im Sinne Robert Geisendörfers und ganz im Sinne, wenn ich auch das sagen darf, einer evangelischen Position: einer „Freiheit zur Anwaltschaft“, die die Betroffenen nicht entmündigt und uns Zuschauer und Teilnehmende nicht gefangen nimmt, so fesselnd die „14 Tagebücher“ auch sein mögen.
Herzlichen Glückwunsch!