Aus der Geisendörfer-Jury Kinderprogramme / Von Tilmann Gangloff
„Die Tabelle lügt nicht“, heißt es in der Sportberichterstattung: Wer am Ende der Saison ganz oben steht, hat den Titel auch verdient. Ist die Tabelle jedoch nur ein Zwischenstand, kann es passieren, dass vermeintlich sichere Preisträger trotzdem leer ausgehen. Nach der ersten Punktevergabe stand in diesem Jahr in der Jury-Abstimmung „Schneewittchen und der Zauber der Zwerge“ mit 9,2 von 10 möglichen Punkten an der Spitze, gefolgt von einer Ausgabe der SWR-Reihe „Der Krieg und ich“ mit 9 Punkten. Unter anderen Umständen wären beide Produktionen höchstwahrscheinlich ausgezeichnet worden.
Die fürs ZDF entstandene erste Regiearbeit des renommierten Kameramanns Ngo The Chau wurde einhellig als bester Märchenfilm seit Jahren eingestuft: zeitgemäß adaptiert, gut in Szene gesetzt, toll gespielt, mit überzeugenden Spezialeffekten und Figuren, die gegen den klassischen Märchenstrich gebürstet sind. Gegen den Film sprach am Ende vor allem die Tatsache, dass die Mehrheit der Jury-Mitglieder nicht schon wieder ein Märchen ehren wollte. Tatsächlich ziehen sich entsprechende Auszeichnungen in den vergangenen Jahren wie ein roter Faden durch die Liste der Preisträger.
Empfehlung für den Sonderpreis
Ähnlich einhellig fiel das Lob für „Der Krieg und ich“ aus. Die achtteilige Reihe, eine europäische Koproduktion, schildert den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht von Kindern in unterschiedlichen Ländern. In der vom SWR eingereichten Folge steht die 13-jährige Pfarrerstochter Sandrine im Mittelpunkt. Sie lebt im 1942 noch unbesetzten Südfrankreich, doch das Vichy-Regime kollaboriert mit den Nazis und liefert Juden aus. Sandrines Eltern haben einige geflüchtete Juden versteckt. Als der Vater verhaftet wird, muss sich das Mädchen entscheiden: Wenn sie die Juden verrät, kommt ihr Vater frei.
Die Folge veranschaulicht nach Ansicht der Jury sehr eindrücklich, was es heißt, „Verbündeter der Verfolgten“ zu sein, und dass es nicht einfach ist, ein guter Mensch zu sein. Die Einbettung des Dilemmas in einen christlichen Kontext zeigt nach Ansicht der Jury idealtypisch, „was Religion in Gefahr und schwerster Zeit zu leisten imstande“ ist. Sandrine ist keine strahlende Heldin, sondern ein ganz normaler Teenager mit entsprechenden Widersprüchen. Eine Auszeichnung hätte vor dem Hintergrund von Völkerverständigung und Versöhnung perfekt dem Wesen des Robert Geisendörfer Preises entsprochen; die Jury empfahl die Reihe daher für den Sonderpreis.
Die Jury hatte in diesem Jahr das Bedürfnis, Produktionen mit größerer Relevanz zu würdigen wie etwa die Episode „Das Mädchen mit den langen Haaren“ (Buch und Regie: Agnes Lisa Wegner) aus der Kika-Reihe „Schau in meine Welt“ (SWR). Titelfigur ist die elfjährige Janne. Nachdem sie eine Fernsehsendung über Kinder gesehen hat, die eine Perücke brauchen, hat sie den Entschluss gefasst, ihre Haare drei Jahre lang wachsen zu lassen, um sie für eine Echthaarperücke zu spenden.
Janne weiß, wie es sich anfühlt, mit einem Handicap zu leben, denn erst ein Hörgerät hat ihr die Möglichkeit gegeben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Zu einem besonderen Film wird der Beitrag, als sie die Empfängerin der Haarspende kennenlernt und sich zwischen den beiden Mädchen eine tiefe Freundschaft entwickelt.
Berührend, zart, sehr nah, mit starker Botschaft ohne Betroffenheitsdramaturgie, auch ohne den so oft unvermeidlichen Soundteppich, sowie in der Gestaltung vorbildlich: Der Film stand bereits nach der ersten Abstimmung als Preisträger fest, selbst wenn es durchaus kritische Anmerkungen gab: Der Beitrag sei in seiner Dramaturgie nicht immer sauber aufgebaut, einige Momente wirkten zudem inszeniert.
Als Film über ein Kind, das aus uneigennütziger Nächstenliebe handelt, passt „Das Mädchen mit den langen Haaren“ jedoch geradezu idealtypisch zu den Preiskriterien. Darüber hinaus zeigt der Film auch, welchen Gewinn freudvolles Geben darstellen kann.
Eindrucksvolle Annäherung
Die Botschaft:Wenn jeder Mensch einem anderen helfen würde, wäre die Welt ein besserer Ort. Eindrucksvoll ist auch die Annäherung zwischen Janne und Anouk. Beide werden oft auf der Straße angestarrt: die eine wegen ihrer extrem langen Haare, die andere wegen ihrer Glatze. In diesem Moment, hieß es in der Diskussion, „spürt der Zuschauer, wie bitter die Eigenart des Menschen ist,
das Fremde auszugrenzen“. Es sei daher umso schöner zu erleben, wie die Mädchen auf Basis des Projekts eine Freundschaft entwickelten. Wegner hat dafür ein schönes Bild gefunden: Janne legt ihre Haare über Anouks Glatze und die beiden Mädchen betrachten sich in einer Umarmung im Spiegel.
Als Anouk ihre neue Perücke erhält, lässt Wegner lässt diesen Moment aus sich heraus wirken: ohne Inszenierung, ohne Musik; er gehört einzig und allein den Protagonistinnen.
Auf ihrer Website scheibt die Autorin Agnes Lisa Wegner über sich: „Mit meinen Filmen will ich das Große im Kleinen erzählen. Das Politische findet immer auch im Privaten statt. Und so sind meine Filme wie ein Blick durchs Vergrößerungsglas.“ Die Größe dieser vermeintlich kleinen Geschichte wächst nicht zuletzt durch die Nähe zu den beiden Mädchen: Die Kamera ist auch in sehr privaten Momenten dabei und dennoch nicht indiskret.
Ähnlich viel Lob gab es für die zweite ausgezeichnete Produktion, eine Folge der WDR-Reihe „Die Sendung mit dem Elefanten“. Auch „Wir kriegen ein Baby“ ist sehr emotional: Die Preisträger Markus Tomsche (Buch) und Renate Bleichenbach (Regie) stellen zwei Schwestern vor, die ein Brüderchen bekommen werden. Das Besondere: Der kleine Tonino kommt in einem Planschbecken im elterlichen Schlafzimmer auf die Welt, und die Mädchen dürfen dabei sein. Sie werden in einem Geschwisterkurs darauf vorbereitet, was sie bei der Geburt erwartet.
Die Sicht der großen Schwester
Die Jury befand, der Beitrag folge einer klar formulierten Dramaturgie, das sei gerade für Vorschulkinder sehr wichtig. Die einfachen, aber treffenden Bilder seien der Zielgruppe eine große Hilfe, sich dem Inhalt Schritt für Schritt zu nähern: Zunächst wird die Familie vorgestellt, dann wechseln sich Realfilm und Animationssequenzen ab. Beide Ebenen beschränken sich auf das Wesentliche. Nichts lenkt ab, alle Gestaltungselemente zahlen auf den roten Faden ein.
Erzählt wird der Film aus der Sicht des älteren Mädchens. Die große Schwester führt mit der klaren Erlebnisperspektive eines Kindes durch den Beitrag, der in keiner Sekunde langweilig oder redundant ist. Auch wird nie der Anschein erweckt, als seien ihr Wörter in den Mund gelegt worden. Die Musik unterstützt die Stimmung durch akzentuierte Einsätze, ohne aufdringlich zu sein.
Der Film stellt eine unmittelbare Nähe zu der als starke Einheit präsentierten Familie her. Viele Kinder empfinden die Ankunft eines Geschwisterchens als Bedrohung, aber hier bekommen gewissermaßen alle gemeinsam ein Kind. Trotzdem wird nicht verhehlt, dass sich durch die Geburt die gewohnten familiären Konstellationen verändern werden, denn die Geschichte endet keineswegs mit der Ankunft des dritten Kindes.
Der Moment der Geburt ist der Höhepunkt. Es ist gelungen, die Intimität dieses Ereignisses einzufangen, ohne das Gefühl zu vermitteln, die Zuschauer seien heimliche Beobachter. „Wir kriegen ein Baby“ feiert das Wunder des Lebens, ohne je kitschig, pathetisch oder gar peinlich zu werden. „Ein angenehm menschennahes Porträt“, lobte die Jury, „sehr natürlich - in jeglicher Beziehung. Besser kann man es fast nicht machen.“
Respekt für die Kinderfernsehredaktion des SWR
Von den sechs Produktionen, die in der Jury als preiswürdig erachtet wurden, stammten drei vom SWR. Die Jury äußerte daher großen Respekt vor der Arbeit der von Stefanie von Ehrenstein geleiteten Kinderfernsehredaktion des Südwestrundfunks. Dritter potenzieller Preisträger neben „Das Mädchen mit den langen Haaren“ sowie „Der Krieg und ich“ war „#WIR - Freundschaft grenzenlos“ (2019), eine Reihe, in der junge Menschen vorgestellt werden, die einander beste Freunde oder Freundinnen sind. Mindestens einer von beiden hat eine Migrationsgeschichte, was nicht immer auf Anhieb erkennbar ist.
Zu den eindrucksvollsten Beiträgen aus dieser Reihe gehörte ein Stück mit zwei Schauspielern, die 17 und 19 sind und damit deutlich älter sind als die anderen Mitwirkenden. Ein Jurymitglied sprach angesichts der wortreich beschworenen gegenseitigen Wertschätzung gar von „Freundschaftsgänsehaut“.
Ein weiterer aussichtsreicher Kandidat war „Leo - Ich bin ein Junge“ aus der ZDF-Reihe „Stark!“. Im internationalen Kinderfernsehen ist das Thema des Films schon öfter erzählt worden: Leo ist als Leonie zur Welt gekommen. Anne Morgan (Buch und Regie) hat hier keinen Aufklärungsfilm à la „Wie werde ich ein Junge?“ gemacht, deshalb bleiben einige Fragen hinsichtlich der Geschlechtsumwandlung offen. Die Jury lobte gerade diese Konzentration auf den Protagonisten ausdrücklich: Der berührende Film widersetze sich dem Instagram-Trend der Perfektion und mache nicht nur Betroffene stark, „sondern jedes Kind, das mit dem Gefühl aufwächst, anders zu sein“.
Häusliche Gewalt
iele der eingereichten Hörfunk-Beiträge - als Kindermedienpreis ist die Kategorie ab diesem Jahr für sämtliche audiovisuellen Produktionen der Sender offen - befassten sich ebenfalls mit dem Themenkomplex Transsexualität. Die entsprechenden Podcasts waren allerdings eher konventioneller Natur und kamen daher nicht für einen Preis infrage.
Ein gutes Beispiel für Multimedialität und die Einbettung in ein programmliches Umfeld war der Beitrag „@Kalinka08 - Melde dich bitte“ (2020) von Ipek Zübert (Buch) und Axel Ranisch (Regie). Das Kurzfilmdrama platzierte sich zwar in der Diskussion der Jury unter den besten zehn Beiträgen, spielte bei der Preisfindung jedoch keine Rolle.
Die Jury lobte den Mut des ZDF, sich des ebenso brisanten wie ambitionierten Themas „Häusliche Gewalt“ während der Corona-Beschränkungen anzunehmen. Die schnelle Reaktion hatte jedoch womöglich zur Folge, dass der Film nicht rundum gelungen ist: Die Geschichte wirkt zu konstruiert, die Konflikte zu gespielt. Hinzu kommt, dass die beiden Vaterfiguren extreme Gegensätze darstellen: der eine ein Monster, der andere ein Vorbild an Verständnis.
Und offenbar war den kreativen Kräften am Ende die Luft ausgegangen. Der Schluss wirkte recht abrupt, viel zu reibungslos lösten sich die Konflikte auf. Lobend erwähnt wurde jedoch der thematische Schwerpunkt, in den der Kinderkanal den Film zum Thema Gewalt in der Familie eingebettet hatte.
Der Kurzfilm kehrt zurück
Die NDR-Serie „Erben der Nacht“ von Maria von Heland (Buch) und Diederik van Rooijen (Buch und Regie), eine europäische Koproduktion, stach nicht allein durch ihr hohes handwerkliches Niveau hervor. Die Vampirgeschichte ist eine Art „Brückenprogramm“, das sich an junge Teenager im Alter von 12 bis 15 Jahren richtet; dieses Scharnierpublikum ist zu alt für den Kika, aber noch zu jung für Funk und vom klassischen Fernsehen irgendwann vergessen worden.
Begrüßt wurde auch die Rückkehr des im Kinderfernsehen praktisch ausgestorbenen Kurzfilms. Zweites Beispiel neben „@Kalinka“ war „Paule und das Krippenspiel“ (Kika/MDR 2020). Der Kinderkanal zeigte den Film letztes Jahr zu Weihnachten als Ersatz für das kirchliche Krippenspiel, weil viele Menschen wegen der Pandemieauflagen keinen Gottesdienst besuchen konnten. Die evangelisch-katholische Koproduktion hat die biblische Botschaft zwar gut getroffen, aber bei den Jurymitgliedern hatte die Geschichte des schwarzen Jungen, der in der Weihnachtsgeschichte den Engel spielen will, keine Chance. Der Film war zu eindeutig „gut gemeint“.
Die Jury wünscht sich mehr solcher Kurzfilme. Die vielen Märchenfilmpreise der vergangenen Jahre sind unter anderem ein Beleg dafür, dass es nur wenig weitere fiktionale Einreichungen gab. Auch diesmal, da sich die Jury mit zwei Jahrgängen zu befassen hatte, waren Filme und Serien eindeutig in der Minderheit.
Es fällt auf, dass Magazinsendungen für Kinder wie „Hallo Bildung!“ (Kika/RBB) oder das mittlerweile eingestellte Medienmagazin „Timster“ (Kika/NDR) mitunter heillos überfrachtet wirken. Wenn es beim Thema Bildung zum Beispiel um Zirkuskinder geht, garantiert das zwar schöne Bilder, führt in der Sache aber nicht weiter.
Auch ein Bericht über Bildung in Kambodscha vor 40 Jahren ist wenig kindgerecht.
Ein Luxusproblem
Die eingereichte „Timster“-Folge beschreibt, wie Kinder mit Behinderung den Alltag erleben und wie digitale Medien ihnen dabei helfen können. Der Umgang mit den Protagonisten war an einigen Stellen jedoch lieblos, die Fragen manchmal einfallslos. Handwerkliche Fehler erwecken den Eindruck, als seien die Beiträge mit heißer Nadel gestrickt.
Auch eine Spezialausgabe der „Sendung mit der Maus“ zum Thema 70 Jahre Grundgesetz setzte die falschen Schwerpunkte. Ein Beitrag über die Geschichte des Reichstags sei ein echter „Aufmerksamkeitskiller bei Kindern“, befand ein Jury-Mitglied in den schriftlichen Anmerkungen. Für Erwachsene mag so ein textlastiger Ausflug in die Architekturgeschichte interessant sein, für die Zielgruppe sicher nicht.
Dennoch bleibt das Fazit positiv. Immerhin gab es sechs potenzielle Preisträger, die Jury hatte also eher „ein Luxusproblem“. Anerkennung gab es für die vielen guten Produktionen für Kinder im Vorschulalter. „Ich bin ich“ (RBB) und „Ene mene bu“ (Kika) kamen für eine Auszeichnung zwar nicht infrage, lagen nach der ersten Abstimmung aber deutlich in der oberen Tabellen-Hälfte. Da der Sichtungszeitraum diesmal zwei Jahre und rund 40 Einreichungen umfasste, sind die Beobachtungen auch mehr als nur Momentaufnahmen. Gelobt wurde, dass viele Sendungen sich um die Förderung moralischer Kompetenz bemühen und trotzdem ohne erhobenen moralischen Zeigefinger auskommen.