Bericht Kinderprogramme 2018

Aus der Geisendörfer-Jury Kinderprogramme / Von Tilmann Gangloff

WDR 2017

Die Auszeichnungen in der Kategorie „Kinderprogramme“ des Robert Geisendörfer Preises gingen in diesem Jahr an die Spezialausgabe „Planet Willi“ aus der „Sendung mit dem Elefanten“ (WDR/Kika) und an „Stadt, Land, Bus“ von ZDF/Kika. Stifter des Kinderfernsehpreises sind die Wolfgang und Gerda Mann Stiftung Medien für Kinder sowie die Evangelische Akademie Tutzing. Unser Autor Tilmann Gangloff war Mitglied der Jury.

Die Kika-Reihe „Schau in meine Welt!“ gehört schon lange zu den interessantesten dokumentarischen Formaten im deutschen Kinderfernsehen. Die Beiträge bieten einerseits immer wieder spezielle Einblicke in einen ganz besonderen Kinderalltag, zeigen andererseits aber regelmäßig, was man alles falsch machen kann. In diesem Jahr lagen der Jury gleich sieben Produktionen aus der von sämtlichen ARD-Sendern belieferten Reihe vor, die damit fast ein Viertel des Gesamtkontingents stellten. Einige Sendungen bewegten sich in Preisnähe, andere wurden als „3sat-Beitrag“ abqualifiziert: für ein erwachsenes Publikum sehenswert, für Kinder langweilig. Bei allem Respekt für den Kinderkanal von ARD und ZDF, mitunter wird schlicht die Zielgruppe verfehlt.

Thematisch ist die Reihe allerdings so facettenreich wie keine andere: „Valentin und Yannick“ (HR, Buch und Regie: Marco Giacopuzzi) stellt zwei deutsche Jungs vor, die gemeinsam Ballet tanzen. „Fatema, das Surfergirl von Coxs Bazar“ (HR, Stefanie Appel) führt in die Welt eines zehnjährigen Mädchens in Bangladesch. Dort lebt auch der Titelheld des Films „Ridoy - Kinderarbeit für Fußballschuhe“ (SWR, Irja von Bernstorff), der Zwölfjährige arbeitet in einer Lederfabrik im Gerberviertel von Dhaka. „Ari und das Totenfest“ (RBB, André Hörmann) erzählt von einem mexikanischen Mädchen, das auf ungewöhnliche Weise um seinen Opa trauert. Um den Tod geht es auch in „Lilli und Mariella - Papa ist schon im Himmel“ (RB, János Kereszti).
  
Und dann war von der Jury selbst noch „Malvina, Diaa und die Liebe“ (HR, Marco Giacopuzzi) vorgeschlagen worden, jene Reportage, die dank einer von der Boulevardpresse begierig aufgegriffenen AfD-Kampagne zu Beginn des Jahres für viele Schlagzeilen gesorgt hat (epd 2,3,4,6/18). Der Film über die nicht unproblematische Beziehung zwischen einem deutschen Mädchen und seinem aus Syrien geflüchteten Freund wurde von der Jury so ausführlich und kontrovers diskutiert wie kaum eine andere Sendung.
  
Kulturelle Konflikte
  
Giacopuzzi, Geisendörfer-Preisträger des vergangenen Jahres für das Porträt eines autistischen Jungen („Jons Welt“), beschreibt in seiner Reportage, wie zwei junge Menschen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander zugehen und nach Kompromissen suchen. Es wurde jedoch bemängelt, dass er diesen Aspekt nicht noch stärker in den Vordergrund gestellt hat. Trotzdem war „Malvina, Diaa und die Liebe“ mit seinem Mut, auch problematische Aspekte anzusprechen, einer der wenigen kritischen Beiträge zur letztjährigen Kika-Themenwoche „Gemeinsam leben“. Vordergründig erzählt Giacopuzzi eine Liebesgeschichte, doch tatsächlich geht es in erster Linie um die kulturell und religiös bedingten Konflikte: weil der Moslem Diaa Erwartungen formuliert, die die emanzipierte Christin Malvina nur zu bis zu einem bestimmten Punkt erfüllen will.
  
Das Thema des Films ist also hochaktuell, denn er vermittelt erfolgreich die Botschaft, dass ein Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen Kompromissbereitschaft erfordert, und zwar von beiden Seiten. Dank der Protagonisten bietet die Dokumentation zudem gute Projektionsflächen, auch wenn sie von deutschen Mädchen vor allem als Warnung vor einer solchen interkulturellen Beziehung verstanden wurde. Es trat also exakt das Gegenteil dessen ein, was Kritiker dem Beitrag vorgeworfen hatten, die behauptet hatten, junge Christinnen würden aufgefordert, sich einem Moslem zu unterwerfen. Denn Malvina ist eine starke junge Frau, die klare Grenzen setzt.
  
Der Film bot nach Ansicht der Jury somit einen Gegenentwurf zu einem Format wie „Germany’s Next Topmodel“, das Mädchen zeige, wie sie sich perfekt anpassen, und er vermittelt Kindern die Kompetenz, sich mit diesem gerade im Kinderfernsehen seltenen Thema auseinanderzusetzen. Giacopuzzis zweiter Film im Wettbewerb, „Valentin und Yannick“, wurde dagegen nur kurz diskutiert. Die beiden Balletttänzer sind zwar schon allein wegen ihres ausgefallenen Hobbys interessante Protagonisten, aber der Regisseur ist ihnen längst nicht so nahe gekommen wie Malvina und Diaa und im vergangenen Jahr Jon.
  
„Ridoy“ wurde von der Jury als „extrem unterkomplex“ und inszeniert empfunden, außerdem bringe der Film über die unwürdigen und gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen seine Zuschauer „in eine Position der Ohnmacht“. „Ari und das Totenfest“ war dagegen ein klarer Preiskandidat. Die zwölfjährige Ari hat im vergangenen Jahr ihren Großvater verloren und möchte ihm zum mexikanischen Totenfest am 1. November sein Lieblingsessen kochen. Am Anfang vertut André Hörmann ein bisschen viel Zeit mit Einkaufen und einem fehlgeschlagenen Kochversuch, aber als die Familie zur Großmutter aufs Land fährt, entwickelt sich der Beitrag zu einem berührenden Film über aktive Trauerarbeit, der Kinder im besten Fall dazu animiert, über ihre eigene Trauer zu sprechen.
Die Jury kritisierte zwar auch hier einige allzu offensichtlich inszenierte Momente, lobte aber die Kamera, die der jungen Protagonistin sehr nahekommt, ohne sich dabei aufzudrängen. Der Film hatte schon allein deshalb große Sympathien, weil der Tod in unserer Gesellschaft weitgehend verdrängt wird.
  
Angesichts dieses gelungenen Porträts waren die Schwächen von „Lilli und Mariella“ umso deutlicher. Es entstand der Eindruck, János Kereszti habe sich nicht entscheiden können, was er erzählen wolle, denn der Film schweift immer wieder vom eigentlichen Thema ab. Hinzu kommt, dass der Tod des Vaters der beiden zwölf- und vierzehnjährigen Mädchen bereits sechs Jahre zurückliegt, weshalb es fast abgeklärt klingt, wenn sie über ihn sprechen. Der Mutter hingegen geht die Trauer deutlich näher.
  
Trotz der Sympathien für das mexikanische Mädchen spielte „Schau in meine Welt!“ in diesem Jahr jedoch keine Rolle bei der Preisfindung. Der erste Preisträger stand bereits frühzeitig fest: Eine Sonderausgabe der WDRVorschulreihe „Die Sendung mit dem Elefanten“ hat die Jury zutiefst berührt. „Planet Willi“ beschreibt in mehreren Beiträgen das Zusammenleben mit einem Jungen, der den Gendefekt Trisomie 21 hat. Ein Mädchen namens Olivia erzählt seine Geschichte, die durch kurze Animationseinspielungen illustriert wird. Es war ein verblüffender Effekt, als sich schließlich herausstellte, dass es den Jungen, der vor einigen Jahren mit seinem Raumschiff auf die Erde gekommen ist, wirklich gibt und dass er Olivias kleiner Bruder ist.
  
Eine Bereicherung
  
Das von Birte Müller (Buch) und Matthias Wittkuhn (Buch, Kamera, Schnitt, Ton) gestaltete Magazin, lobte die Jury, sei das perfekte Beispiel für die Kunst, ein problematisches Thema in eine hilfreiche Metapher zu transformieren. Dem Paar gelingt so das Kunststück, Kindern im Vorschulalter anschaulich zu erläutern, wie der Alltag mit einem Trisomie-Kind aussieht. Die ersten „Sachgeschichten“ machen zudem keinen Hehl daraus, dass die Eltern bei Willis Geburt bestürzt waren und dass das Leben mit dem Jungen auch anstrengend sein kann. Über allem steht jedoch die Botschaft, dass Willi keine Belastung, sondern eine Bereicherung für die Familie ist.
  
Dafür hat das Paar eine Sprache gefunden, die auf Anhieb einleuchtend, aber nie belehrend ist: weil sie zwar mit Worten arbeitet, doch in erster Linie auf Bilder und nicht auf abstrakte Begriffe setzt. Dank dieser vorschulkindgerechten Konzeption empfand die Jury „Planet Willi“ als Botschaft, die sich auf jede Familie übertragen lasse: Kinder sind das größte Glück.
  
Den zweiten Preisträger kürte die Jury nach kurzer Diskussion ebenfalls einstimmig. „Stadt, Land, Bus“ ist eine Sendung aus der ZDF-Reihe „Der Goldene Tabaluga“. Die Autoren Felix Kost und Leonie Litschko begleiten fünf Jugendliche aus unterschiedlichen Teilen des Landes bei ihrer Reise kreuz und quer durch Deutschland. Sie sollen herausfinden, was „typisch deutsch“ ist, und ihre Erkenntnisse mit selbst gedrehten Filmen dokumentieren. Auch in diesem Fall war die Jury auf Anhieb begeistert, weil sich Machart und Tonfall deutlich von den meisten anderen dokumentarischen Formaten im Kinderfernsehen abheben: Die kurzweiligen Beiträge zeichnen sich durch eine unbeschwerte, aber nie aufgesetzt wirkende Fröhlichkeit aus. Das Beste an diesem Format, das der Kika ebenfalls im Rahmen des Themenschwerpunkts „Respekt für meine Rechte! - Gemeinsam leben“ ausgestrahlt hat, sind die Grundidee und ihre Umsetzung: Die fünf Jugendlichen sind in einem zum perfekten Wohnmobil umgerüsteten Bus unterwegs, so wird die Reportage zum Roadmovie. Großen Anteil an der Qualität hat auch das Casting: Die fünf jungen Erwachsenen sind mit ihrer offenen und interessierten Art gleichermaßen authentisch wie unterhaltsam, die Teenager bilden ein Ensemble, das ausgezeichnet zusammenpasst und sich perfekt ergänzt. Ihre gegenseitige Wertschätzung trägt enorm zu dem positiven Lebensgefühl bei, das „Stadt, Land, Bus“ vermittelt. Auf leichtfüßige Weise setzt sich die Reihe mit Deutschland auseinander.
  
Zwei ganz andere Formate wurden gleichfalls ausgesprochen positiv besprochen und waren zumindest Mitfavoriten. Die nur wenige Minuten kurzen Filme aus der neuen Kika-Kleinkindreihe „Ich bin ich“ schaut Vorschulkindern dabei zu, wie sie das Leben entdecken: Bauernsohn Luis darf zum ersten Mal allein die Tiere füttern, Maja und ihre Freundin finden im Garten eine tote Maus, die sie würdevoll beerdigen, Oskar lernt Fahrrad fahren. Die Kinder erzählen ihre Geschichten selbst. Die Reihe, lobte die Jury, mache deutlich, dass auch kleine Dinge ganz groß sein können, wenn man sie zum ersten Mal erlebt.
  
Mutige Mädchen
  
Einen ähnlich positiven Eindruck hinterließ eine Folge der Kika-Reihe „Hobby Mania - Tausch mit mir dein Hobby!“ (ebenfalls ein Juryvorschlag). Schon im letzten Jahr war die Jury sehr angetan von dem Format, in dem zwei Kinder einen Rollentausch vornehmen, diesmal ging es um Fechten und Harfe spielen (MDR, Buch: Jana Olsen, Regie: Anke Kossira). Die Folge lebt vor allem von den beiden Protagonistinnen, die versuchen, sich gegenseitig für ihre völlig unterschiedlichen Leidenschaften zu begeistern und dies sehr natürlich, unaufgeregt und mit großem Respekt tun.
An dem Format im Allgemeinen und dieser Ausgabe im Besonderen gefiel der Jury vor allem der Mut der Mädchen, sich auf eine Herausforderung einzulassen, an der sie auch krachend scheitern könnten, schließlich müssen beide am Ende vor Publikum zeigen, was sie von der anderen gelernt haben. Trotzdem verzichtet „Hobby Mania“ völlig auf den für fast alle Castingshows typischen Wettbewerbscharakter.
  
Bleiben noch einige Einreichungen, über die die Jury ebenfalls länger gesprochen hat, aber nicht aus Gründen der Preiswürdigkeit, sondern um ihrem Unmut Luft zu machen. In einer Ausgabe von „Pur+“ (ZDF, Buch: Wolfgang Pruss, Regie: Anabel Münstermann) befasst sich Moderator Eric Mayer unter dem Titel „Was stimmt nicht mit mir“ mit seelischen Erkrankungen. Er trifft sich zunächst mit einer jungen Frau, die sich das Leben nehmen wollte, und besucht anschließend eine Jugendpsychiatrie. Größter Kritikpunkt an der Sendung war die Konterkarierung des löblichen Ansatzes: Die Redaktion will ein besseres Bild der Psychiatrie vermitteln, fährt aber in einem historischen Rückblick von der Zwangsjacke bis zur Elektroschocktherapie alles auf, was die gängigen Klischees bedient. Zwölfjährige, monierte die Jury, hätten solche Vorurteile gar nicht, aber jetzt womöglich doch.
  
Ähnlich problematisch war nach Ansicht der Jury eine Folge des NDR-Dauerbrenners „Die Pfefferkörner: Weil ich ein Mädchen bin“ (Buch: Catharina Junk, Regie: Florian Schnell). Die Episode erzählt von einem Mädchen, das neu in eine Klasse kommt. Niemand ahnt, dass Nicki dem Ausweis nach ein Junge ist. Ein fieser Mitschüler findet das zufällig raus und erpresst sie. Nicki fürchtet, nun werde sich wiederholen, was sie an ihrer alten Schule erleben musste, und vertraut sich Pfefferkorn Mia an. Die Dialoge, hieß es, stammten offenbar aus einem schlechten Elternratgeber, der hölzerne Vortrag lasse spüren, dass sich die jungen Darsteller nicht wohlfühlten.
  
Auch die Ausgabe „Hallo Glaube!“ (RBB, Anja von Kampen) aus der Kika-Magazinreihe mit Moderator Felix Seibert-Daiker und Zeichentrickfigur Knietzsche wurde nicht nur von den theologischen Jurymitgliedern als befremdlich empfunden: Es ist völlig egal, ob du an Gott glaubst oder an den Osterhasen war die Botschaft. Dass zum Thema Glaube als erstes von Buddhismus die Rede war, hat die Theologen in der Runde ebenfalls irritiert.
  
Zum Schluss gab es noch eine Anerkennung für Super RTL. Der Kindersender hat noch nie einen Geisendörfer-Preis bekommen, aber die qualitative Anmutung der handwerklich respektablen Einreichungen aus dem Bereich Non-Fiction, bewege sich heute in ganz anderen Dimensionen als vor zehn oder zwölf Jahren, lobte die Jury. Eigenproduzierte Serien oder Filme des Privatsenders dürften jedoch auch in Zukunft nicht zu erwarten sein, das können sich hierzulande nur ARD und ZDF leisten.
  
Die einzige öffentlich-rechtliche Serie, die ausführlich besprochen wurde, war „5vor12“ (Buch: Marcus Roth, Tillmann Roth, Regie: Niklas Weise, Christoph Pilsl), eine BR-Serie über fünf straffällig gewordene männliche Jugendliche, die in einer therapeutischen Maßnahme einige Wochen auf einer abgeschiedenen Berghütte verbringen müssen. Die Serie hat zwar den Grimme-Preis im Wettbewerb „Kinder und Jugend“ bekommen, fand in der Jury jedoch kaum Befürworter. Die Einschätzung, mit ihren vielen Leerlaufpassagen und den langen Einstellungen seien die 24 sehr entschleunigt erzählten Folgen eher für ein erwachsenes Publikum geeignet, deckt sich mit dem äußerst überschaubaren Erfolg bei der Kika-Ausstrahlung.