Laudatio für Jürgen Domian, Robert Geisendörfer-Sonderpreisträger 2015, von Pastorin Andrea Schneider, VEF-Rundfunkbeauftragte, Oldenburg
Sehr geehrter Herr Singelnstein, lieber Bischof Fischer, sehr geehrte Damen und Herren – und natürlich: lieber Jürgen Domian!
Zu Beginn ein Outing – und das passt ja zu Ihrer Sendung: Als ich für diese Laudatio angefragt wurde, war ich nicht nur überrascht und geehrt. Ich war auch sehr zögerlich. Denn ich hatte zwar irgendwann irgendwo mal Ihren Namen gehört und diesen auch irgendwie mit einer nächtlichen Talksendung in Verbindung gebracht, aber – ganz ehrlich – ich wusste sonst nichts über Sie. Hatte noch nicht eine einzige Sendung von Ihnen gehört oder gesehen. Unmöglich, oder …?
Aber ganz schnell bekam der Name Domian – Ihr Vorname scheint ja durch die Sendung abhanden gekommen zu sein! – für mich eine tiefgründige Geschichte, die Sendung eine Fülle von Facetten und ich viel Lust, Sie und Ihre Sendung heute zu ehren mit einer Rede.
Ich tue das als Theologin und Pastorin. Da müssen Sie nun „durch“ als kirchenkritischer Zeitgenosse! Wobei – es hätte ja nicht viel gefehlt, und Sie wären selbst ein Kirchenmann geworden. In Ihrer Jugend im schönen Gummersbach, hinter den sieben Bergen, wo es manchmal noch den Anschein hat, als seien Welt und Kirche in Ordnung, da hatten Sie ja eine ganz intensive Phase des Glaubens, fast fundamentalistisch, wie Sie mal sagten. Sie waren regelmäßig im Gottesdienst und kurz davor, selbst Theologie zu studieren.
Pastor sind Sie zwar nun nicht geworden, dafür aber Seelsorger der Nation. Und so können Sie es hoffentlich ertragen, dass meine Laudatio – wie sonst für evangelische Predigten typisch – drei Gliederungspunkte hat: Die erleuchtete Nacht. Das fragende Gespräch. Die gefüllte Zeit.
1. Die erleuchtete Nacht
In allen Kulturen und Religionen, auch in jüdisch-christlicher Tradition, hat die Nacht eine besondere Bedeutung. Die Bibel erzählt, dass Gott aus dem Chaos der wüsten Finsternis das Licht erschafft. Er setzt die Sonne an den Himmel für den Tag und macht auch eine Beleuchtung für die Nacht, Mond und Sterne. So wird die bedrohliche Dunkelheit in ihre Schranken gewiesen.
Die Nacht ist die Zeit des Zweifelns und des Kämpfens. Mit dem Leben und mit Gott. Wer und wo bist du? Du Ferner und du Fremder? Du Mächtiger und du Segnender? Und die Nacht ist die Zeit der großen Versprechen Gottes: so viele Nachkommen wie Sterne am Himmel. Freiheit für das geknechtete Volk. Das Kind in der Krippe. Frieden auf Erden. Heilige Nacht. Osternacht. Lebendige Nacht.
Die Nacht – eine besondere Zeit. Auch für uns heute. Die Alltagsräder stehen still und die Seelenantennen stehen auf Empfang. Je stiller es außen ist, umso lauter oft innen. Gedanken kreisen. Fragen bohren. Ängste schlagen zu. Die Nacht ist Bedrohung und Geheimnis. Und sie ist Sehnsucht – nach Erleuchtung.
Ein Licht in der Nacht – das war und ist Domians Nighttalk täglich für bis zu 60.000 Hörerinnen und Hörer. Ein Unterhaltungs-Licht für alle, die in der trüben Alltagsnacht etwas Verrücktes hören oder erzählen wollen. Ein Mutmach-Licht für die gemobbte Angestellte, die sich am Tag kaum mehr in ihre Firma traut. Ein Widerspruchs-Licht für den verqueren Zeitgenossen, der felsenfest davon überzeugt ist, man könne allein durch Denken steuern, wie alt man wird. Ein Trost-Licht für den verzweifelten Vater, dessen Tochter bei einem Autounfall ums Leben kam. Ein Orientierungs-Licht für den gestörten Mann, der sexuelle Befriedigung nur mit der aus Hackfleisch geformten Frau findet. Und so weiter.
Sie, Domian, erleuchten die Nacht für Menschen, die bisher dachten, niemand würde ihre Dunkelheit wahrnehmen. Niemand anders würde so denken, fühlen, leben wie sie. Ihre Sendung zu dieser mitternächtlichen Stunde – klar, das ist eine angestrahlte Bühne für Selbstdarstellungs-Vielredner und Sensations-Lustige. Aber sie ist eben auch ein heller Raum für Mundtot-Gemachte und Lebenslust-Geknickte.
So hat es Robert Geisendörfer, der Begründer dieses Preises und Urvater der Medienarbeit der Ev. Kirchen, natürlich nicht gesagt. Aber ganz ähnlich. Aufgabe der evangelischen Publizistik soll sein: „Etwas öffentlich machen, Fürsprache üben, Barmherzigkeit vermitteln und Stimme leihen für die Sprachlosen.“
Ich bin überzeugt, wenn Robert Geisendörfer heute dabei wäre – er würde sagen: „Danke, Domian!“
2. Das fragende Gespräch
Das Zwielicht der Nacht malt nicht nur große Schatten, es zeichnet auch scharfe Konturen. Gedanken und Gefühle wabern nicht nur hin und her, sie bekommen auch Richtung und Kraft. Über vieles kann man einfach nicht so gut um 13:00 Uhr bei Kaffee oder Tee reden, sondern viel besser um 1:00 Uhr bei Wein oder Whisky. Nicht unter dem Deckenstrahler im Großraumbüro, sondern an der Funzelkerze auf dem Plüschsofa. Und in der anonymen Nähe des Telefons.
20.000 Menschen haben das mit Domian getan in den letzten zwanzig Jahren. Unglaublich! 20.000 Gespräche. Unzählige Fragen: Worüber möchten Sie mit mir reden? Unzählige Antworten: Ich habe es noch nie jemandem erzählt, aber jetzt … Verrückte Geschichten. Tränenreiche Dramen. Und immer wieder: Pausen. Pausen – eigentlich störend, ja tödlich im Rundfunk. Aber hier: Knoten lösend. Wege suchend. Und nach einer Pause die sanfte Frage: Können wir weiterreden?
Domians Frage – besser gesagt Gesprächstechnik ist hoch professionell. Aber gerade nicht buchstaben-richtig, vor-geschrieben von Lehrbüchern für aktives Zuhören und spiegelndes Antworten, wie es einem – gerade wenn man selbst ein wenig von der Sache versteht – zuweilen ziemlich auf die Nerven gehen kann.
Nein, die Art, wie Sie, Domian, mit Leuten reden, wie Sie mit ihnen auf die Suche gehen nach den Gefühlen hinter den Worten, nach dem Thema unter der Oberfläche – das ist deshalb so faszinierend, weil Sie selbst mit drinzustecken scheinen: im Fragen, Rätseln, Staunen. Unterhaltsam und ernsthaft zugleich.
Ist das die Steigerung von Professionalität? Sicher auch. Aber in aller Routine von Zuhörtechnik und Rhetorik ist viel ehrliches Interesse, spontane Neugier, echtes Fragen spürbar. Ich glaube, das ist das eigentliche Domian-Phänomen, das „rüberkommt“, wie man so schön sagt.
Ein Fragender und Suchender sein zu dürfen, das mussten Sie sich, in kleinbürgerlichem Milieu aufgewachsen, erst erkämpfen. Sich nicht mit schnellen Antworten zufriedengeben, den Dingen auf den Grund gehen – das war und ist Ihr innerer Motor. Fertig-falsche Antworten – nix für Sie. Fordernd-fatale Gottes- und Glaubensbilder – auch nicht. Die haben Sie – zum Glück! – schon vor vielen Jahren ad acta gelegt. Damit auch das Christentum selbst. Schade eigentlich … Aber anderes Thema …
In einer Sendung, wo Domian von Hörern eingeschickte Fragen beantwortet hat, wurde er gefragt, wohin er denn am liebsten mal reisen würde. Die Antwort – ich zitiere: „Ins Jahr Null, bzw. 30. Und da würde ich gern Jesus kennenlernen, diesen Christus, der so eine mächtige Bewegung ins Leben gerufen hat.“ Interessant …
Ich glaube, wenn diese Reise möglich wäre – Sie beide würden sich gut verstehen. Jesus war ja auch so ein kompromissloser Wahrheitssucher, so ein geschickter Fragensteller, so ein sanftäugiger Menschen- und besonders Frauenversteher. Und wie Sie war Jesus auch ein begabter Nighttalker. Nicht nur in großen Diskussionsrunden beim Essen zu Tische liegend, sondern auch im intimen Zweiergespräch im Schatten der Nacht.
Das Johannesevangelium berichtet von solch einem Nighttalk. Mit Nikodemus, intellektuelle Führungsfigur der Zeit und Sinnsucher. So wie oft Domians Gesprächspartner, pirscht sich auch Nikodemus mit Komplimenten an sein eigentliches Thema heran. Aber dann geht's zwischen den beiden Männern um's Eingemachte: Was bedeutet geboren werden? Und wirklich leben? Sie reden über die Flüchtigkeit der Erkenntnis, über die Sehnsucht nach Wahrheit, über das Wehen des Heiligen Geistes. Das Gespräch zwischen dem Night-Talker Jesus und dem Nacht-Frager Nikodemus endet – wie meist auch Domians Gespräche – offen. Nikodemus aber wird sein Gespräch – wie Domians Gäste ihre – nicht vergessen haben. Er trifft Jesus später noch mal wieder, stand vermutlich auch unter seinem Kreuz.
Auch Domian hat manche Gäste wiedergetroffen. Zum 18-jährigen Jubiläum durften nur Hörer anrufen, die früher schon einmal in der Sendung waren. Da hat Domian u.a. mit einer Frau gesprochen, die sieben Jahre zuvor von ihrer krebskranken Tochter erzählt hatte. Nun beschrieb die Mutter in der Sendung unglaublich berührend das eindrückliche Sterben der jungen Frau. Und Domian hörte hin, fragte nach, griff immer wieder Einzelheiten aus dem Leben des Mädchens auf: Da erinnere ich mich doch noch … Keine Ahnung, aber auch egal, was Sie, Domian, wirklich erinnert haben oder welche Schnipsel Ihnen blitzschnell von Ihrem fitten Redaktions- und Studioteam zugespielt wurden aus dem Archiv … Es war ein Gespräch, wo ein – ja! – ein fast heiliger Geist wehte. Wo Ihre Hörerinnen und Hörer – und auch ich bei meiner Recherche – spüren konnten, was wirklich wichtig ist im Leben. Und wie das sein kann: Seel-Sorge. Lebens-Hilfe.
Nur ein Beispiel von so vielen in so vielen Jahren. Danke, Domian!
3. Die gefüllte Zeit
In diesem Frühjahr schon hat Domian angekündigt, 2016 die Sendung aufzugeben. Zu einem Zeitpunkt, als sie besonders gut lief. Das ist ungewöhnlich. Aber irgendwie auch passend. Und für mich ein Beispiel für das biblische Verständnis von Zeit. Die Bibel kennt den Kairos, den richtigen Zeitpunkt, den es zu nutzen, am Schopfe zu packen gilt, wie es das Bild von dem bis auf eine Stirnsträhne kahlköpfigen griechischen Götterjüngling Kairos nahelegt. Und sie kennt den Chronos, den Zeitlauf, den Rhythmus der Zeiten, die gefüllte Zeit. Kohelet, der Weisheitslehrer des Alten Testaments, beschreibt es so: „Alles hat seine Zeit. Pflanzen und ausreißen. Bauen und abbrechen. Weinen und lachen …“ usw.
Was für eine Lebensklugheit! Alles hat seine Zeit. Auch eine Telefon-Nighttalk-Sendung hat ihre Zeit. Domians Entscheidung wurde bedauert von Fans und Medien. Aber auch von Hochachtung begleitet. Und heute ja vom Medienpreis der Evangelischen Kirche gekrönt.
Es stimmt: Zeit rinnt. Aber füllt sich auch. Rundet sich. Und endet irgendwann. So wie nun – bzw. bald – auch Domians Nighttalk. Dann können Sie, Jürgen Domian, wieder einen normalen Tag-Nacht-Rhythmus leben. Denn alles hat seine Zeit: schlafen und wach sein. Reden und schweigen. Nighttalken und – leben. Wie gut!
Dann hat diese Frage ihre Zeit: Was bleibt? Vielleicht Ihre Liebe zur Nacht? Vielleicht auch Ihr häufiges Reisen in den nördlichsten Norden Europas, um die Mitternachtssonne zu sehen, dieses einzigartige Licht, das jede Nacht hell macht? Und auch diese Frage hat dann ihre Zeit: Was kommt? Erstmal ja nun im Herbst Ihr Film „Interview mit dem Tod“. Typisches Domian-Thema. Und vielleicht kommt irgendwann eine Sendung, wo Sie Ihre Gäste nicht nur hören, sondern auch sehen? Spannende Zeit …
Eine 83-jährige Hörerin hat es in einer Sendung mal so gesagt: „Domian, ich höre Sie jede Nacht. Sie sind für mich die beste Schlaftablette!“ Äh … wie jetzt …? Man konnte förmlich Ihre gerunzelte Stirn und – falls das überhaupt geht – Ihre noch größer gewordenen Augen „sehen“ im Radio. Aber die alte Dame hat's schnell selbst gemerkt und erklärt: „Es ist so: Meine inneren Wogen glätten sich durch Ihre Sendung. Ich kann dann zu mir selbst sagen: Gute Nacht! Und endlich einschlafen …“
Na, dann: danke, Domian! Und herzlichen Glückwunsch zum Robert Geisendörfer Preis!