Bericht Kinderprogramme 2007

von Tilmann P. Gangloff

Das musste ja so kommen: Weil im Vorjahr die KI.KA-Weihnachtsgeschichte „Beutolomäus sucht den Weihnachtsmann“ ausgezeichnet wurde, wurde die Jury prompt mit diversen Weihnachtsgeschichten beglückt. Keine leichte Bewertungsaufgabe, wenn vor den verdunkelten Fenstern hochsommerliche Temperaturen herrschen. Trotzdem war es vor allem eine Frage der fehlenden Qualität, dass keine der Produktionen auch nur in die Nähe von Preiswürdigkeit kam. Bis auf eine, aber auch die scheiterte gewissermaßen an äußeren Umständen: Schon 2006 hatte WDR-Redakteurin Manuela Lumb für den von ihr verantworteten Kurzfilm „Die große Frage“ eine Lobende Erwähnung erhalten. „Stille Nacht, eilige Nacht“, ebenfalls drei Minuten lang und gleichfalls für die „Sendung mit der Maus“ entstanden, erfreute die Jury nicht weniger. Die Miniatur erzählt die Geschichte der Heiligen Nacht aus Sicht des miesepetrigen Herbergswirts, der immer wieder um seine Nachtruhe gebracht wird, weil erst Maria und Josef, dann diverse Hirten und schließlich drei Könige lautstark Einlass begehren. Bis auch er am Ende beim Anblick des Jesuskinds ganz verzückt ist.

Religiöse Konflikte
Eine erneute Honorierung Lumbs hätte der Jury die Möglichkeit genommen, ein Zeichen ganz anderer Art zu setzen und den dokumentarischen Bereich zu stärken. Das tat sie mit der Lobenden Erwähnung für Gesa Dankwerth, Moderatorin der WDR-Kindernachrichtensendung „neuneinhalb“ (ARD, samstags, 11.50 Uhr). Die Entscheidung fiel in großer Einmütigkeit, obwohl der zur Debatte stehende Film nicht unproblematisch ist: Der Versuch der Redaktion, die Ursachen des Nahostkonflikts in einer 37 Minuten langen Spezialausgabe zusammenzufassen, konnte eigentlich nur scheitern. Schließlich ist kaum ein aktueller Krisenherd derart brisant und komplex.

Die notwendigen Vereinfachungen, die sich bei einer Sendung fürs Kinderfernsehen nicht vermeiden lassen, erhöhten die Skepsis, weshalb sich zunächst kaum Fürsprecher fanden. Kritisiert wurde beispielweise, der Film spare die sowohl auf israelischer wie auch auf palästinensischer Seite begangene Gewalt aus, wirke stellenweise fast euphemistisch und ignoriere, dies ein Hauptvorwurf, die Religion als Ursache des Konflikts. Andererseits wurde gelobt, dass sich die Redaktion dieses komplexen Themas überhaupt angenommen habe und die Sendung außerdem ungleich informativer und vor allem tiefgründiger sei als alle möglichen „Brennpunkte“ der ARD.

Auch wenn sich niemand in der Jury der Illusion hingab, der Film könne ein großes Publikum erreicht haben, so hoffte man doch, dass er zu Diskussionen etwa im Schulunterricht angeregt hat. Dankwerth, die als Koautorin und -regisseurin maßgeblich beteiligt war, erhält die Lobende Erwähnung stellvertretend für das „neuneinhalb“-Team.

Keine Einmischung
Keine Einwände gab es gegen „Unsere Zehn Gebote“ (Kritik in epd 27/06). Allerdings galt es auch in diesem Fall zunächst, einen entscheidenden Punkt zu klären, um etwaigen Unterstellungen vorzubeugen. Die Jury war sich darüber im Klaren, dass die von der Erfurter Produktionsfirma Kinderfilm GmbH im Auftrag von MDR und KI.KA hergestellte Reihe mit Geld der beiden Kirchen zustande gekommen ist. Außerdem ist Kinderfilm eine Tochterfirma von Studio.TV.Film, an der wiederum die von verschiedenen evangelischen Landeskirchen getragene Eikon beteiligt ist. Mit ihrem Produktionszuschuss haben die Kirchen das Recht erstanden, die Filme zu verwenden. Die Summe ist jedoch überschaubar und komplettierte die Finanzierung - eine Erlaubnis zur Einmischung war damit nicht verbunden. Ohne dieses Geld aber wäre die Reihe womöglich nicht entstanden. Außerdem war sich die Jury der Tatsache bewusst, es könne möglicherweise etwas einfallslos anmuten, wenn ein kirchlich initiierter Medienpreis ausgerechnet an eine religiös motivierte Kinderreihe geht; doch auch von diesem Argument ließen sich die Juroren nicht abhalten.

Die aus abgeschlossenen Geschichten bestehende Reihe (Erstausstrahlung im KI.KA), deren Episoden durch einen entlaufenen Hund miteinander verbunden werden, sollen laut Initiatorin Ingelore König, der Geschäftsführerin von Kinderfilm, eine These belegen: „Die Zehn Gebote sind der kulturelle Schatz, auf dem unser Leben basiert.“ In den kurzen, komprimiert erzählten Folgen geht es um teils alltägliche, teils tiefgreifende Ereignisse aus dem Kinderalltag. Den dramaturgisch intensivsten Eindruck hinterließ Folge fünf, „Du sollst nicht töten“. Während sich beispielsweise der Konflikt in Folge sechs („Du sollst nicht ehebrechen“) allzu leicht aus der Welt räumen lässt, sorgt gerade der ausgezeichnet geführte junge Leonard Carow als Hauptdarsteller der Verfilmung des fünften Gebots dafür, dass sich Kinder mit der geschilderten Situation identifizieren können: Plötzlich ist er Herr über Leben und Tod und hat die Möglichkeit, sich an einem älteren Schüler für erlittene Demütigungen zu rächen.

Gänsehautaugenblick
Die Schlüsselszene des Films, in der der Junge einen Gewissenskonflikt durchlebt, der über Leben und Tod entscheidet, ist von enormer Intensität; ein echter Gänsehautaugenblick, der als stärkster Moment aus zehn mal fünfzehn Minuten im Gedächtnis bleibt. Preisträgerinnen sind die Initiatorin der Reihe, Kinderfilm-Geschäftsführerin Ingelore König, und die verantwortliche MDR-Redakteurin Christa Streiber. Dank der herausragenden Qualität von „Unsere Zehn Gebote“ war das Votum für den Preisträger unumstritten. Dahinter tummelten sich allerdings gleich ein halbes Dutzend potenzielle Preisträger. Am leidenschaftlichsten fielen die Plädoyers für, aber auch gegen eine Folge aus der NDR-Fantasy-Serie „4 gegen Z“ aus. Im Mittelpunkt der Geschichten stehen vier Kinder aus einer Patchwork-Familie. Sie sind die einzigen, die Lübeck vor der Rückkehr des in eine Parallelwelt verbannten Schurken Zanrelot bewahren können. Die Serie hat im Verlauf ihrer verschiedenen Staffeln enorm an Qualität gewonnen, gerade die jungen Darsteller sind längst nicht mehr so hölzern wie noch zu Beginn. Außerdem schmückt sich die Produktion mit einem echten Hollywood-Schurken: Udo Kier hat sichtlich Vergnügen am augenrollenden Antihelden.

Die Folge „Sag einfach ja!“ ragt heraus, weil es Andrea Katzenberger (Buch und Regie) gelingt, innerhalb von 25 Minuten eine sowohl an George Orwells „1984“ wie auch an Michael Endes „Momo“ oder Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ gemahnende Geschichte zu erzählen: Mit Hilfe einer Spielzeugpuppe, ein Werbegeschenk beim Fast-Food-Imbiss, betreibt Zanrelot eine umfassende Gehirnwäsche. Die Menschen werden im Nu gleichgeschaltet, sind von einem Moment auf den anderen angepasst und tragen fortan nur noch graue Einheitskleidung.

Halbes Hakenkreuz
Souverän, aber nicht leichtfertig arbeitet Katzenberger mit Verweisen auf NS-Inszenierungen: Die ganze Stadt ist voller „Z“-Flaggen, in denen man mit etwas Fantasie ein halbes Hakenkreuz erkennen kann, und zum fast psychedelisch anmutenden Finale sieht sich der einzig verbliebene junge Wächter mit Hunderten marschierender Zanrelots konfrontiert. Obwohl der Film bis zum Schluss in erster Linie packende Zerstreuung bietet, eignet er sich perfekt, um beispielsweise die Arbeitsweise der Sekte Scientology zu erklären. Eine energische Minderheit hielt die Folge allerdings für bedenklich, weil sie gerade jüngeren Kindern Angst einjagen könne. Die beschriebenen Deutungsmuster seien außerdem typisch für eine erwachsene Sichtweise, Kinder verfügten gar nicht über das nötige Wissen.

Nicht mehr im Rennen war da bereits eine Episode aus der losen KI.KA-Filmreihe „Krimi.de“, weil sie bei aller Qualität dann doch bei Weitem nicht so intensiv war wie die „4 gegen Z“-Folge. „Unter Druck“ beschreibt den Gewissenskonflikt von Coco, die gemeinsam mit einer Freundin beobachtet, wie drei Jungs in das Haus eines Lehrers einsteigen, um die Abi-Aufgaben zu klauen. Als der Mann unvermutet auftaucht, schlagen sie ihn nieder. Die Freundin will die Polizei alarmieren, doch Coco hält sie zurück: Sie ist in einen der Jungs, Marco, verknallt.

Geschickt verpackt das Drehbuch (Anja Jabs) einen typischen Konflikt für dieses Alter - Freundschaft oder Liebe? - in eine Krimihandlung. Beiläufig wird auch noch das Thema Integration eingearbeitet: Coco ist Tochter eines alleinerziehenden türkischen Vaters (Hilmi Sözer), rettender Ritter ist am Ende ein türkischstämmiger Anwalt (Denis Moschitto). Die jugendlichen Darsteller sind gut geführt (Regie: Buket Alakus), das Finale, als Coco endlich einsieht, dass Marco ihre Verliebtheit bloß ausnutzt, ziemlich spannend.

Plädoyer für Freundschaft
Aus ähnlichen Gründen wie „Unter Druck“ blieb auch die Folge „Flinke Finger“ aus der SWR-Serie „Ein Fall für B.A.R.Z.“ auf der Strecke, obwohl auch sie ihre Stärken hat und ein relevantes Thema behandelt: Rumänische Waisenkinder werden von skrupellosen Deutschen gezwungen, in der Fußgängerzone Brieftaschen und Geldbörsen zu stehlen. Natürlich klären die Kinder auch diesen Fall, gehen dabei allerdings hohe Risiken ein. Der Film ist nicht zuletzt ein Plädoyer für Freundschaft und außerdem handwerklich ausgezeichnet gemacht; auch diese Serie hat sich sehr zu ihrem Vorteil entwickelt.

Neben „neuneinhalb“ gab es unter den „Finalisten“ nur noch zwei weitere nicht-fiktionale Reihenbeiträge, einmal aus „Stark!“, einmal aus „Fortsetzung folgt!“ Die unter dem Sammeltitel „Stark!“ (ZDF) gezeigten Filme sollen Mut machen und stellen Kinder vor, die ungewöhnliche Herausforderungen meistern müssen. Beispielhaft dafür war im Preiskontingent des letzten Jahres das Porträt eines Jungen („Kevin - Lasst mich reden“), der sein Stottern in den Griff bekommt.

„Tanzen und fliegen vor Freude“ nannte ZDF-Korrespondent Hans-Peter Trojek seinen Film über Khombisile. Die Eltern des zehnjährigen südafrikanischen Mädchens sind an Aids gestorben; nun trägt sie die Verantwortung für ihre drei kleineren Geschwister. Dies sowie der mühsame Alltag mit weitem Schulweg und anstrengendem Wassertransport dürften aus Sicht deutscher Kinder schon ein kaum vorstellbares Dasein darstellen. Daher wurde der Einwand, Khombisile habe im Vergleich zu unzähligen Gleichaltrigen, die in Aids-verseuchten Lagern vor sich hin vegetierten, ein geradezu idyllisches Dasein, wieder zurückgezogen. Derlei möchte man Kindern wirklich nicht zeigen. Ein gewisses Unbehagen blieb dennoch, weil der Film stellenweise wirkt, als habe Trojek das Mädchen zwar im Alltag begleitet, den scheinbar von ihr selbst gesprochenen Kommentar aber später selbst getextet.

Rechte der Kinder
Ein nicht minder starkes Mädchen steht im Mittelpunkt des Films „Mirellas Buch“ (MDR) aus der KI.KA-Reihe „Fortsetzung folgt“. Allerdings zeigte sich bald, dass vor allem die Leistung von Mirella preiswürdig war, weniger jedoch das Dazutun von Autorin Iris Schülke, denn die hat Mirella bloß begleitet: Die 14-Jährige will sich am Junior-Botschafter-Wettbewerb der Unicef beteiligen und stellt mit Hilfe von 200 Kindern ein Buch über die Rechte der Kinder zusammen. Schülke dokumentiert den Prozess von der ersten Ideensammlung bis zur abschließenden Präsentation, bei der Mirella den dritten Platz belegt. Mal abgesehen von der Gratisreklame für Unicef und der viel zu ausführlich abgefilmten Abschlussveranstaltung, bei der auch noch KI.KA-Redakteur Matthias Huff auftritt, ist die Musikauswahl recht schauerlich. Und über die Kinderrechte erfährt man nur sehr wenig. Umso respektabler ist die unausgesprochene Botschaft des Films: dass man auch durch Engagement ohne Eigennutz soziale Anerkennung erfahren kann.

Der Rest ist rasch abgehandelt. Ein Teil der 26 Einreichungen war schlicht indiskutabel, wenn auch nicht aus Qualitätsgründen. 3sat-Reihen wie „Mädchengeschichten“ oder „Fremde Kinder“ beispielsweise sind sicher aller Ehren wert, haben aber nichts mit Kinderfernsehen zu tun, wie schon der Sendeplatz nahelegt (donnerstags, 21 Uhr). Und auch dieser Jahrgang bewies wieder mal, dass kommerzielles Kinderfernsehen, ohnehin bloß vertreten durch Super RTL, den Eigenproduktionsmarkt nicht nennenswert bereichert hat.

„Tigerenten für Afrika“
Der Sender hatte jeweils eine Folge aus zwei Zeichentrickserien sowie eine Spezialausgabe von „Toggo TV“ eingereicht. „Weihnachtsmann Junior“ aber ist unter französischer Federführung entstanden, die Klappmaulgeschichte „Peb & Pebber“ hinterließ kaum Eindruck („nett“), und bei „Toggo TV“ wurde vor allem begrüßt, dass der Sender anlässlich des „Kinderfernsehtages“ auf viele Marktanteile verzichtet hat. Auch hier gab's reichlich Werbung für Unicef, doch der Junge, der den Junior-Botschafter 2006 repräsentierte (einen Kinderchor), wirkte wie ein Sprachroboter: Offenbar las er seine Antworten vom Teleprompter ab. Lobende Worte fanden sich immerhin für Moderatorin Nina Moghaddam, die auch schon (wenngleich völlig chancenlos) für einen Grimme-Spezial-Preis nominiert war. Diverse Einreichungen wurden zwar als sehenswerte Alternative zu den gewalttätigen Zeichentrickimporten aus Japan empfunden („Endlich Samstag!“, BR), kamen aber nicht in Preisnähe. Schon zum zweiten Mal nicht als preiswürdig erachtet wurde das Projekt „Tigerenten für Afrika“ (SWR), obwohl die Redaktion freundlicherweise eine Begründung für die Auszeichnung gleich mitgeliefert hatte.

Andere Sendungen wurden als ärgerlich empfunden, etwa der RBB-Beitrag „Mit Gina durch dick und dünn“, ebenfalls aus der KI.KA-Reihe „Fortsetzung folgt“. Das 14 Jahre alte Titelmädchen wiegt weit über zwei Zentner und soll in einer Klinik abspecken. Autorin Jana Kalms schafft es allerdings nicht, Emotionen zu wecken: Während man bei Stotterer Kevin wollte, dass ihm geholfen wird, bleibt man bei Gina auf Distanz, zumal zwar ständig über sie, aber nur wenig mit ihr geredet wird. Ohnehin ist der Film komplett zugetextet, bleibt optische Belege für die Behauptungen (etwa Ginas angebliche deutliche Wesensänderung) aber schuldig. Ebenfalls chancenlos war der fast neunzig Minuten lange Dokumentarfilm „Die Villa“ (WDR): Heimkinder filmen ihren Alltag und werden dabei von Calle Overweg beobachtet. Besonders brisante Erinnerungen verpackt er als Zeichentrickintermezzi, die die Erzählungen der Kinder illustrieren (Vater Alkoholiker, Mutter suizidgefährdet). In kürzeren Segmenten wäre diese spannende und enorm authentisch wirkende Form vielleicht sogar zielgruppengerecht. So jedoch wurde „Die Villa“ zwar als sehenswert empfunden, aber eben auch als Film über, nicht für Kinder - ohnehin ein Eindruck, der sich wie ein roter Faden durch die nunmehr vierjährige Geschichte des Robert Geisendörfer Preises für Kinderfernsehen zieht.

Aus: epd medien Nr. 51, 3. Juli 2007