Lautatorin: Klaudia Wick
„Unbestechlich und beflügelnd“ – Laudatio auf Heike Hempel, Sonderpreisträgerin 2007
Wie ich gehört auch Heike Hempel zu jenen 60er-Jahrgängen, die als erste Generation in der Bundesrepublik vom ersten Tag an mit dem Fernsehen aufgewachsen ist. Die Sehschule, die wir - ohne es so recht zu merken - tagtäglich besuchten, wurde von Redakteuren verantwortet, die eigens zum Fernsehen gegangen waren, weil man dort etwas Neues ausprobieren konnte. Experimentierfreudige Künstler und Journalisten fühlten sich damals vom noch jungen Medium Fernsehen so magisch angezogen wie heute die Internetgeneration vom Web 2.0. So hätte sich zum Beispiel Heike Hempel schon während ihrer Grundschuljahre für das „Kleine Fernsehspiel“ interessieren können, denn die Nachwuchsredaktion des ZDF sendete ursprünglich nicht zu nachtschlafender Stunde, sondern setzte zunächst ihre halbstündigen, also vergleichsweise „kleinen“ Beiträge am Vorabend zwischen „Drehscheibe“ und „Dick und Doof“ ab.
Aber ich erinnere mich auch an größere, noch gewagtere Experimente: An Wolfgang Menges Science-Fiction „Das Millionenspiel“ oder an die ZDF-Show „Wünsch dir was“ mit Dietmar Schönherr und Vivi Bach. Rainer Werner Fassbinder drehte in den siebziger Jahren für den WDR die Arbeiterserie „Acht Stunden sind kein Tag“ und Eberhard Fechner begann den Düsseldorfer „Majdanek-Prozess“ zu besuchen.
Als Heike Hempel - auch darin gleichen sich unsere Ausbildungsbiografien - in den achtziger Jahren in Köln und Berlin Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft studierte, drehte Edgar Reitz im Hunsrück seine „Heimat“ und Hans W. Geissendörfer am Stadtrand von Köln die „Lindenstraße“. Aber wer in diesen Jahren im Fernsehen etwas Neues ausprobieren wollte, war schon damals nicht mehr auf ARD und ZDF angewiesen. Die Programminovationen gingen bald von einem neuen, kommerziellen Fernsehen aus, Absolventen wie Heike Hempel hatten nun die Wahl: In Köln lockte neben dem „alten“ WDR auch die „junge“ Garagenfirma RTL; auf dem Mainzer Lerchenberg residierte nicht mehr allein das ZDF, sondern auch der Privatsender Sat.1. Heute gehören auch diese beiden längst zur Old School, aber in den neunziger Jahren setzten sie mit ihren jungen Zielgruppenangeboten das traditionelle öffentlich-rechtliche Redakteursfernsehen ganz ordentlich unter Druck.
Als die damals 34-jährige Heike Hempel 1999 nach vier Jahren beim WDR zum ZDF wechselte, startete Günther Jauch bei RTL die Spielshow „Wer wird Millionär“ und in den Niederlanden machte die Fernsehshow „Big Brother“ erste Schlagzeilen. Die Generation der Filmhochschüler, die Hempels Nachwuchsredaktion „Das kleine Fernsehspiel“ heute für das Fernsehen begeistern will, ist mit dem internationalen Format-TV von Kindestagen an aufgewachsen. Ihre Sehschule lehrte sie in den neunziger Jahren auch die Endlosdramaturgien der Daily Soaps und die neue, „uneigentliche“ Formensprache der Nachmittagstalkshows. Entsprechend machen die jungen Kreativen von heute nun Fernsehen für ein Publikum, das mit dem Medium bestens vertraut ist. Und so spielt der Nachwuchs ironisch mit dem Bekannten, mischen die Jungen in ihren Hybridstücken ganz selbstverständlich die Realitätsebenen und bedient sich die „You Tube“-Generation insgesamt ziemlich ungeniert einer Fernsehgeschichte, die inzwischen immerhin ein halbes Jahrhundert weit zurückreicht.
Die Redaktion des „Kleinen Fernsehspiels“ hat diese Entwicklung früh erkannt und schon Ende der achtziger Jahre das Formatlabor „Quantum“ gegründet, in dem die jungen Talente seitdem ermuntert werden, das Fernsehen der Zukunft zu entwickeln. Die Idee des „Themenabends“ nahm hier einst ihren Anfang, wurde dann aber später nicht im ZDF, sondern beim „Kulturkanal“ ARTE Programmwirklichkeit. Die Idee zu „Blind Date“, dem Improvisationexperiment mit Olli Dittrich und Anke Engelke, ist hier geboren worden und zuletzt auch das Science-Fiction-Projekt „Ijon Tichy: Raumpilot“, dessen liebevolle Ausstattung mich zuweilen an den Charme der guten alten „Raumpatroullie Orion“ erinnerte.
Seit ein paar Jahren sind Formexperimente aber nicht mehr auf das Fernsehlabor „Quantum“ beschränkt. Unter der Leitung von Heike Hempel, die die Nachwuchsredaktion vor sieben Jahren von ihrem Vorgänger Eckart Stein übernahm, ist der Blick des „Kleinen Fernsehspiels“ nämlich in mehrfacher Hinsicht erweitert worden: Die erfolgreichen Talentsucher vom Lerchenberg fördern nun neben den klassischen Spielfilmregisseuren und Drehbuchautoren verstärkt auch junge Dokumentarfilmer und eben auch all jene, die den großen Freiraum zwischen Fiktion und Realität für sich entdeckt haben. Diese Neuorientierung ist strategisch so wichtig, weil die junge Zuschauergeneration eben nicht mehr automatisch eine Fernsehgeneration ist. Für die „You Tube“-User der heute Zwanzigjährigen ist das Fernsehen vielmehr zunächst einmal ein ganz alltägliches Medium, das sie mit Webcam und Computer leichter Hand nachinszenieren können und im Web-Umfeld gerne ironisch verfremdet zitieren.
Um solche kreativen Schätze auch abseits der Filmhochschulen zu heben, lässt Heike Hempel die Förderprojekte des „Kleinen Fernsehspiels“ seit einiger Zeit auch öffentlich ausschreiben - zuweilen mit unerwartet großer Resonanz. Dabei ist das „l'art pour l'art“ heute weniger denn je die Sache des „Kleinen Fernsehspiels“. Vielmehr lenkt die Redaktion mit Themen wie „Glück im Unglück“, „Agenda 2020 - Wie werden wir leben?“, „Absolute Beginners - Der erste Job“ oder „Aufgewachsen in Europa“ die Aufmerksamkeit der Jungfilmer behutsam, aber doch bestimmt auf gesellschaftlich relevante Themen. So bringt das „Kleine Fernsehspiel“ in der letzten Zeit immer häufiger Filme hervor, die beim Robert Geisendörfer Preis nominiert und - wie zum Beispiel in diesem Jahr Katharina Peters Filmessay „Am seidenen Faden“ - auch ausgezeichnet werden.
Wer für das „Kleine Fernsehspiel“ arbeitet, muss sich auf eine Low-Budget-Produktion einstellen. Mit dem Jahresetat der Redaktion könnte man fünf handelsübliche „Tatorte“ herstellen; Heike Hempel und ihr Team finanzierte mit dem Fünf-Millionen-Budget im letzten Jahr mehr als zwanzig Produktionen - darunter auch namhafte Festivalerfolge und Kinohits.
Dass Heike Hempel beim ZDF nicht nur für die „kleinen“ Kunststücke im Spätprogramm, sondern auch für so „große“ Primetime-Erfolge wie „Neger, Neger, Schornsteinfeger“ verantwortlich ist, ist ein Glücksfall. Bis heute verantwortet sie nämlich neben ihrer leitenden Tätigkeit im „Kleinen Fernsehspiel“ auch als Redaktionsleiterin der Hauptabteilung Fernsehspiel II so wichtige Programmvorhaben wie zuletzt das Historiendrama „Dresden“. Danach von mir befragt, wie er sich an die Zusammenarbeit mit der Redakteurin Hempel erinnert, antwortete Nico Hofmann ohne einen Moment des Zögerns: „Angstfrei, unbestechlich und beflügelnd“ habe er Heike Hempel während der langen Entwicklungszeit zu „Dresden“ erlebt.
In diesen drei Worten ist die Vorstellung von einem Redakteursfernsehen skizziert, wie es längst noch nicht überflüssig ist, sondern im Gegenteil auch in der digitalen Zukunft noch dringend gebraucht werden wird. Der diesjährige Sonderpreis des Robert Geisendörfer Preises geht an Heike Hempel und ihre Redaktion „Das Kleine Fernsehspiel“.
Herzlichen Glückwunsch!