Autorin und Regisseurin Stella Tinbergen. ARTE/ZDF 2005 (Redaktion: Dokumentarfilm, verantwortliche Redakteurin: Anne Even, Produktion: Stella Tinbergen)
Begründung der Jury
Die Presse nannte ihn den „Mitternachtsmörder“. Als man den Serientäter endlich fasste, war die Untersuchungsrichterin überrascht, „einen so verletzbaren Menschen vor mir zu haben“. Dem psychiatrischen Gutachter fiel „eine gewisse Unnahbarkeit“ auf, für seine Adoptivmutter blieb Mischa bis zum Schluss ein „liebenswerter weicher Mensch“. Der „Fall Mischa E.“ machte im Sommer 2002 Schlagzeilen: Wie sich herausstellte, war der Triebtäter, der im Großraum Bern eine Reihe von sexuellen Übergriffen und schließlich einen Mord begangen hatte, ein erfolgreicher Leistungssportler und Schweizer Nationalheld.
In ihrer Dokumentation nimmt sich die Autorin und Regisseurin Stella Tinbergen viel Zeit, hinter die Schlagzeilen zu blicken. In ausführlichen Gesprächen mit der Adoptivmutter und den Behörden, mit Mischas Freunden und Kollegen, mit dem Gutachter, den Ermittlern und der Untersuchungsrichterin rekonstruiert sie eine tragische Lebensgeschichte: Vor seiner Adoption konnte der vierjährige Mischa weder laufen noch sprechen.
Bei den leiblichen Eltern hatten er und sein älterer Bruder in völliger emotionaler Verwahrlosung gelebt. Es gehört zu den großen Stärken der Dokumentation, dass Stella Tinbergen diese bedrückende Lebensgeschichte, die in Mischas Suizid ihren verzweifelten Abschluss fand, nicht als Absolution für die Gewalttaten gelten lässt. Das Unfassbare bleibt unfassbar. Wohl aber deutet der einfühlsam montierte Film einen Zusammenhang an zwischen dem sprachlos großen Leidensdruck des Kleinkindes und dem abgründigen Doppelleben des erwachsenen Mannes. So gelingt Tinbergen mit dem „Fall Mischa E.“ nicht nur die faire Rekonstruktion eines Gewaltverbrechens, sondern in gewissem Umfang auch eine Wiedergutmachung an der Person Mischa Ebner.