Eleganz der Nüchternheit. Bericht aus der Jury „Allgemeine Programme“
von Volker Lilienthal
Auch im 26. Jahr seines Bestehens ist der Robert Geisendörfer Preis noch immer etwas Besonders unter den deutschen Radio- und Fernsehpreisen. Er gilt als Auszeichnung für Sendungen, die sich den existenziellen Fragen des Humanum nähern, die noch Interesse zeigen für Glaube und Haltung, für Würde und Not des Menschen. Das Ernste scheint im Vordergrund zu stehen, doch entwickelten der Preis und d.h. seine Jurys in den jüngeren Jahren mehr und mehr Sinn auch für das Spielerische, für Humor und Ironie. Hoffen wir, dass sich dies in den Preiskomitees der Sender mehr und mehr herumspricht.
Über mangelndes Interesse können sich die Träger, die Evangelische Kirche in Deutschland und drei ihrer Gliedkirchen sowie das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, jedenfalls nicht beschweren. In diesem Jahr hatten zwölf öffentlich-rechtliche Anstalten (incl. ORF) und zwei Privatsender 36 Fernsehproduktionen zur Auswahl eingereicht. Im Hörfunk hatten die Vorauswahlkommission und die Jury „Allgemeine Programme“ 30 Sendungen zu prüfen. Bewerber waren vor allem die ARD-Sender, aber auch vier Privatsender sowie DRS2 aus der Schweiz.
Wille zur Idylle
Der folgende Jurybericht diskutiert die sechzehn Wettbewerbsbeiträge – je acht aus Radio und Fernsehen -, die die Vorauswahlkommission mit den Kolleginnen und Kollegen Sybille Simon-Zülch, Heike Hupertz, Diemut Roether und Joachim Huber für grundsätzlich preiswürdig erachtet hatte.
Um mit dem Hörfunk zu beginnen: Mit in der engeren Wahl war ein Feature des Bayerischen Rundfunks über eine deutsche Jüdin der Jetztzeit, die nach Israel ausgewandert ist. Nirit Sommerfeld heißt sie. Ihre Freundin Margot Litten ist die Reporterin, und konsequenterweise erschienen beide – Subjekt und Objekt – in der Autorenangabe zu dieser Bayern2-Sendung. Möglicherweise war diese Nähe der Grund, warum die Sendung zwar interessierte, aber nicht wirklich überzeugte. Trotz Seitenblick auf permanente Kriegsgefahr und schwierigen Alltag im Israel von heute überwog doch zu sehr der Wille zur Idylle. Beispielhaft steht dafür ein Satz wie dieser: „Dazu ein Tisch, der sich vor Köstlichkeiten biegt.“
Einen durchaus interessanten Stoff bot das Deutschlandfunk-Hörspiel „Mein Name ist Rachel Corrie“, ein Stück über eine amerikanische Friedensaktivistin, die heute 30 Jahre alt wäre, wenn sie nicht im März 2003 im Gazastreifen bei dem Versuch, einen Bulldozer-Fahrer vom Abriss eines palästinensischen Wohnhauses abzuhalten, tödlich verletzt worden wäre (siehe auch www.rachelcorriefoundation.org). Basierend auf Tagebuchaufzeichnungen kreist das Hörspiel um die Frage der Motivation: Was hat der jungen Frau die Kraft gegeben, ihr Leben für ihre Ziele Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen und letztlich hinzugeben? Das Hörspiel fesselte, doch da es hauptsächlich auf Corries Aufzeichnungen, übertragen aus dem Amerikanischen, basierte, sah die Jury den gesetzten Anspruch, originäre Radioproduktionen auszeichnen, nicht vollends als erfüllt an. „Für den Funk eingerichtet“ – so nannte man das wohl früher.
Aus deutscher Gegenwart kam eine Produktion des RBB auf den Jurytisch: die Nöte deutscher Soldaten nach traumatisierendem Auslandseinsatz. Ein wichtiges Thema also, eines, das inzwischen auch in einigen Fernsehfilmen behandelt wurde. Die Sendung (mit dem etwas dick auftragenden Titel „Wenn die Seele blutet“) war solide gemacht, blieb aber letztlich konventionell. Was als Detail störte: ein im O-Ton zu hörender Familiendialog, der gestellt wirkte, wie aufgesagt für das RBB-Mikrofon.
Misslungenes Großprojekt
Fast ein bisschen ärgerlich fand die Jury den Thementag „Tabuthema Tod“, den RBB radioeins am Karfreitag des vergangenen Jahres von 9 bis 21 Uhr gesendet hatte. An sich ein äußerst ambitioniertes Unterfangen: eine Tagestrecke bis in den Abend hinein freizuräumen für dieses schwierige, so gar nicht unterhaltsame, sondern angstauslösende Thema. Natürlich gab's am Sendetag auch (thematische) Musik auf radioeins. Doch das Thema Tod stand im Vordergrund, wurde aufgefächert in über 20, über die zwölf Stunden verstreute Beiträgen.
Allzu plötzlich wirkte der Einstieg des Moderators ins Thema, kein Schaufenster der zu erwartenden Beitragsvielfalt wurde erklärend geöffnet – wie überhaupt die Moderatoren meistens mit nassforscher Oberflächlichkeit an das Thema und an die Gäste dazu herangingen. Der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber wurde da hart rangenommen: „Haben Sie Angst vor dem Tod? Ich frage Sie jetzt ganz konkret.“ Eine Forciertheit war das, wie man sie sich eher in Interviews mit Politikern wünschen würde.
Man hörte hier schlimme Phrasen wie die, dass der Tod ein „Bestandteil bestimmter Verletzungsmuster“ sei, man fühlte sich in der Massierung bedrängt von einer Art wikipedischer Enzyklopädie des Todes, man ärgerte sich über gelegentliche Altklugheit des Moderators („Ich halt's da immer mehr mit Elias Canetti“), woraufhin Wolfgang Huber seinen „Zauberberg“ herausholte, woraufhin wiederum der Moderator, offenbar recht belesen, noch mal mit Thomas Mann replizierte, als hätte er seinen Zettelkasten dabei. Gewissermaßen eine Art intellektuelles Ping-Pong im Angesicht des Todes. Gut gemeint, entschied die Jury, doch in der Ausführung zu schlecht gemacht, als dass es einen Preis verdient hätte.
Ebenfalls dem Tod – und mehr noch: seiner Bewältigung – hatte sich das WDR-Feature über den Bestattungsunternehmer Fritz Roth verschrieben. „Nordrhein-Westfalen steckt voller Persönlichkeiten“ – so liest sich die Formatbeschreibung der neuen Reihe „Eine kurze Geschichte von...“. So kurz war's aber gar nicht, immerhin brutto 30 Minuten, die einem lang werden konnten mit all den Anklängen an eine Werbe-CD für das Roth'sche Unternehmen.
Hagiographie eines Weltlichen
Fritz Roth ist zweifelsohne ein ungewöhnlicher Bestattungsunternehmer, manche sagen auch: „ein Original“. Seinen Job sieht er nicht nur darin, Verstorbene pietätvoll unter die Erde zu bringen. Er will Trauerbegleitung bieten, bleibt dabei aber ganz kirchenfern und holt sich Know-how lieber auf kommerziellen Fachkongressen in den USA. „Der Tod hat bislang noch keine Lobby in unserer Gesellschaft“, ist eine der Roth'schen Weisheiten, die Autor Carsten Schabosky unkommentiert stehen lässt. Da kann man nur sagen: Keine Lobby – Gott sei dank.
Roth, der offenbar ein kleiner Gunther von Hagens aus NRW ist, bietet für Schulklassen Führungen durchs Bestattungsinstitut an – „Höhepunkt der Tour: eine echte Leiche sehen“. Roth wird gelobt dafür, dass er sich angeblich fünf Stunden Zeit für eine Beerdigung nimmt, bei der es – mit allerlei Brimborium – vor allem darum zu gehen scheint, dass die Hinterbliebenen sich wohlfühlen und getröstet Abschied nehmen können.
Gegen dieses Geschäftskonzept und seine affirmative Reproduktion in der WDR-Sendung rührte sich der profunde Widerspruch des Juryvorsitzenden, des badischen Landesbischofs Ulrich Fischer: Es handele sich um eine Grenzüberschreitung, denn keineswegs dürften Hinterbliebene mit einem Toten machen, was sie wollten. Roth kolonisiere zum eigenen Vorteil die Kompetenz der Kirche, die übrigens längst selbst gewisse Individualisierungen der Trauerzeremonie zulasse, wie sie Roth für sich (gewissermaßen als USP) reklamiere.
Man stimmte darin überein, dass dieses WDR-Porträt kaum mehr war als die Hagiographie eines weltlichen Heiligen, distanzlos und unjournalistisch auch insofern, als von den Preisen für die Roth'schen Dienstleistungen kaum die Rede war.
Starke, auch kontroverse Diskussionen löste in der Jury Paul Plampers Hörspiel „Ruhe 1“, produziert und gesendet vom WDR, aus. Es beginnt mit der Soundszenerie eines Restaurants. Ein Vorfall auf der Straße vor den Fenstern lässt die Gespräche der Gäste verstummen – es entsteht eine Stille, die Plamper als „Politikum“ deuten will. Es plätscherte so hin, ohne Form zu gewinnen – sagten die einen. Es ist hohe Hörspielkunst in „Short cut“-Technik, erwiderte der andere, während eine andere ein leicht exzentrisches Minderheitenprogramm gehört hatte. Die Weisheit von Ernst Jandl stand im Raum – „Die Kunst sucht sich die Formen und nicht umgekehrt“ -, doch konnte das WDR-Hörspiel die Mehrheit nicht für sich einnehmen.
Zum guten Schluss: Hörerglück
Welch Hörerglück lösten, damit verglichen, die beiden Preisträger-Sendungen aus. Autorin Ricarda Bethke und Regisseur Thomas Zenke erhielten einen Robert Geisendörfer Preis für ihr vom Deutschlandfunk gesendetes Frauenbild „Meine liebe Änne!“. Rekonstruiert aus Briefen und anderen Dokumenten aus den Jahren 1933 bis 1983 wird hier fesselnd und dramaturgisch fein gesponnen nacherzählt, wie die frühere Schwesternschülerin Änne T. zwischen die Mühlsteine der NS-Medizin und Justiz gerät, wie sie das Schicksal der Zwangsterilisierung erleidet und sich von diesem Trauma ihr Leben lang nicht mehr erholt. Eine reife Leistung, so eine Mitjurorin, als Radiosendung überaus gelungen nicht zuletzt durch beständigen Perspektivwechsel. Autorin und Regisseur kommen ganz ohne falsche Melancholie aus. Ton und Stil ihres Features lassen sich paradox beschreiben als Eleganz der Nüchternheit – das vor allem war ihre großartige, preiswürdige Leistung.
Ebenso schwärmen muss man vom NDR-Beitrag „Mein lieber Heinrich“ mit dem treffenden Untertitel „Eine niederdeutsche Familienmontage“. Walzer und Klavier durften hier durchaus für Atmosphäre sorgen, doch hatte Regisseur Hermann Theissen diese Stimmungselemente sorgsam und zurückhaltend eingesetzt. Die mit einem Geisendörfer-Preis ausgezeichnete Autorin Elke Suhr erzählt das vielfältige Leben einer niederdeutschen Bauernfamilie nach, und sie tut dies mit Detailvielfalt, auch historischer Genauigkeit und – nicht gering zu schätzen – mit einer ordentlichen Portion Humor, die natürlich auch herrührt aus dem Witz der Menschen, die in diesem Feature, teils auch in Mundart, auf Platt, zu Wort kommen. Es geht um zwei Weltkriege und wie sie die Söhne gefressen haben. Wie die Söhne dann auf dem Feld fehlten und die Frauen ihr hartes Leben meisterten.
Diese deutsche Schreckens-, aber auch Überlebensgeschichte hat Elke Suhr mit einer Vielfalt thematischer Ebenen (Familienleben, Landleben, Kriegsgeschichte, Frömmigkeit) rekonstruiert. Und das Schönste, es durfte sein: Trotz Leidensgeschichte, trotz Krieg und Diktatur amüsierte sich die Jury beim Anhören köstlich. Weil hier einfallsreiche Menschen ein unterhaltsames und doch wahrhaftiges Zeugnis ablegten, wie sie ihre Würde gegen die Widrigkeiten der Zeitläufte wahren konnten. Dass Elke Suhr sie uns vorgestellt hat, ist ein Geschenk an die Hörer.
Preisabonnenten – diesmal glücklos
Das Preisgewerbe des deutschen Fernsehens kennt ja so seine Abonnenten: Kreative, die eine Trophäe nach der anderen abräumen, als folgten Jurys einem Automatismus, einem bedingten Reflex, wenn nur bestimmte renommierte Namen aufscheinen. Mischka Popp und Thomas Bergmann, zweifelsohne große Könner, Intensivisten und Stilisten, gehören zu dieser exklusiven Klientel. Doch in der Geisendörfer-Jury hatten sie es diesmal schwer. Zu sehr hatten sie sich bei ihrem ARTE-Porträt des Psychoanalytikers und Ethnologen Paul Parin auf die Prominenz und Raffinesse des Objekts verlassen.
Popp und Bergmann, die Dokumentaristen, taten hier nicht viel mehr, als den greisen, noch immer wachen und witzigen Parin aus seinem Leben und über die Welt plaudern zu lassen. Es kam hinzu: seine Peer-group aus Freunden und Familie, die quasi als Claquere die Einzigartigkeit des Parin rühmen durften. Man durfte dabei seien, bei diesen Plaudereien von Intellektuellem auf hohem und manchmal weniger hohem Niveau. “Der Rauch der Träume“ wollte fast gar nicht informieren, er rekapitulierte Parins Lebensstationen in einem knapp gefassten Rolltitel zu Beginn. Popp/Bergmann provozierten mit extremen Naheinstellungen auch in sehr intimen Alltagslagen des Alten, sie ärgerten die meisten Juroren mit absurden Zwischenschnitten und schlechter Kamera, so das übereinstimmende Urteil. „So ein Kopf ist ja immer noch wild“, meinte Parins Sekretärin. Ja, aber reicht das für ein Film auf ARTE?
Mit einigem Gefallen hat die Jury Vivian Naefes Komödie „Mit einem Schlag“ gesehen, eine von Hager Moss Film für den BR produzierte Milieustudie über einen Bauunternehmer, dem der Schlaganfall das Gedächtnis raubt. Eine Komödie also mit durchaus tragischen Aspekten. Vor allem die herausragenden schauspielerischen Leistungen von Peter Simonischek als Jakob und Gisela Schneeberger als dessen Frau Maria nahmen für den Film ein. Was die einen allerdings witzig und hübsch fanden, war für die anderen, mit Blick auf die Milieuzeichnung, eher Klischee. So reichte es nicht für einen Preis.
Junge Farbe, zu dick aufgetragen
Eine an sich erfreulich junge Farbe kam mit einer weiteren BR-Produktion in den Geisendörfer-Wettbewerb: „Einer bleibt sitzen“ von Tim Trageser (Regie) und Matthias Pacht (Buch). Ein junger Mann verliert seine Freundin an einen anderen, baut in seiner Wut einen Motorradunfall, bleibt querschnittsgelähmt zurück. Wie er dann dank Freunden und einer Rehabilitation ins Leben zurückfindet, ist das Thema des Films – der realistisch beginnt, dann aber in ein Märchen schöner Menschen, die ihr Schicksal meistern, umkippt. Ein Melodram, das reichlich mit Slowmotion und anderen artifiziellen Tricks arbeitete, ein Film, der unsere emotionalen Reflexe auszubeuten schien.
Es geht in dieser Teamworx-Produktion um Entwicklungsaufgaben im Leben junger Menschen, Themen, von denen es im Fernsehen viel zu wenig gibt. Aber das Reflexionsniveau, auf dem die Themen abgehandelt wurden, blieb denn doch dürftig, zu einfach gestrickt, zumal es mit Querschnittslähmung um keine Kleinigkeit ging: „Man sagt, dass Krisen auch Chancen sind.“
An sich sehenswert war auch der vom ORF eingereichte Beitrag „Der schwarze Löwe“, eine politisch unterfütterte Komödie über drei Asylbewerber, die zur Hoffnung einer abgehalfterten österreichischen Fußballmannschaft aufsteigen. Thema: Diskriminierung, Sujet: Sport. Unterhaltsam anzuschauen, doch in seiner künstlerischen Umsetzung nicht so überzeugend, als dass man den Film hätte auszeichnen müssen.
Tauschhandel und Helpformate
Das RBB-Fernsehen reichte „7 Tage – Wir tauschen unser Leben“ zum Wettbewerb ein. Eine Migrantenfamilie aus Berlin-Neukölln reist nach Lübbenau, um ins Leben der Familie Schwerdtner zu schlüpfen, die sich wiederum, rausgerissen aus der beschaulichen Provinz, in der Hauptstadt bewähren muss. Ein Format à la „Frauentausch“ also auf höherem Niveau. Die Jury aber war damit nicht zu überzeugen, kam doch die Exposition des Experiments sehr schleppend voran – wer hätte nicht schon abgeschaltet? „Schneller starten!“ pflegte Günter Struve früher in solchen Fällen zu sagen. Zu sehr inszeniere hier das Fernsehen für eigene Zwecke die Wirklichkeit, so wurde moniert. Eine Spielanordnung des Fernsehens für Erwachsene – mehr aber auch nicht.
Lange diskutiert wurde über das RTL-Help-Format „Die Ausreißer – Der Weg zurück“. Der Jury lag die Episode „Jenny“ vor: Das Mädchen kam aus schwierigen sozialen Verhältnissen in Ostdeutschland und lebte in Berlin auf der Straße. Zu sehen ist, wie sich Streetworker Thomas Sonnenberg (der Typ deutscher Diplom-Sozialpädagoge, der mittlerweile in Großbritannien meistbietend als Problemlöser gesucht wird) ihrer annimmt.
Die Jury würdigte den Ansatz der RTL-Reihe, erkannte an, dass misslingendes Leben und vor allem die Modelle zu seiner Rettung unbedingt ins Fernsehen gehören – gegen eine Auszeichnung aber sprach unbedingt die teils verlogene Machart dieser Episodenfilme: Jenny erlebt eine „Reunion“ mit ihrer Mutter, der Off-Kommentar faselt etwas, wonach dies der Moment sei, wo Mutter und Tochter allein bleiben sollten – doch die RTL-Kamera hält drauf und drauf. Warum nur gelingt es den Produzenten (in diesem Fall: Imago TV) nicht, die Inszenierung ein bisschen nur zurückzunehmen, dezenter zu sein, mehr Mut zum Grau des Alltags zu haben? So fragte man sich. Eigentlich schade drum, es hätte ein Preis für einen Privatsender werden können.
Neunzig Minuten Provisorium
Der Name Michael Verhoeven ließ einiges erwarten, als sich die Jury der WDR-Dokumentation „Menschliches Versagen“ annahm. Themenspektrum: NS-Zeit, Arisierung, Täterschaft im Alltag, in der sogenannten Normalgesellschaft. Doch welche Filmsprache wurde uns in diesem 90-Minuten-Opus (solche Sendeplätze gibt es noch!) geboten? Eine unterfordernd simple, seltsam strukturlose zudem. Wir hören eine Frau, wie sie die Leidengeschichte ihres Vaters erzählt – Schnitt – es folgt eine belehrende, theoretisierende Soziologin, die bequem auf ihrem grünen Balkon sitzt.
So schlicht, so schnell kann man starke Szenen entwerten. Oder, anderes Beispiel: In „Menschliches Versagen“ lernten wir einen Professor Dresen kennen, der fürs Fernsehen rasch noch mal die verpackte Flachware seiner eigentlich schon geschlossenen Geschichtsausstellung aufriss. Die WDR-Kamera durfte hineinlugen in die Holzkästen der Historie. Ein einfallsloses Provisorium.
Ganz anders dagegen die beiden Preisträgerfilme. „Rosis Baby“ aus der ARD-Reihe „Polizeiruf 110“ nahm für sich ein als sehr zärtliche, dabei authentische Studie aus dem Leben von Menschen mit Behinderung. Das Buch von Alex Buresch und Matthias Pracht benennt Vorurteile, zeigt deren Absurdität – und doch geht der Film unter der Regie von Andreas Kleinert respektvoll mit den Protagonisten der Vorurteile um.
Ungewöhnlicher Krimi
Das gilt erst recht für die Würde der Behinderten, dargestellt von Laiendarstellern – eine Herausforderung wohl auch für die Regie. Ein ganz ungewöhnlicher Krimi also (produziert von Claussen+Wöbke+Putz für den BR), ein Krimi, der ohne Brutalität auskam, ein Film mit vielen ernsten Themen (Abtreibung: Wie wertvoll ist ein Leben?), der Ansatzpunkte für die eigene ethische Urteilsbildung des Zuschauers bot, zusätzlich ein Film voller komischer Szenen, kunstvoll inszeniert. Slapstickreif: wie Edgar Selge als Kommissar Tauber auf dem Sofa des Zahnarztes Oliven zu picken versucht. Wohlgemerkt: Er versucht es.
Aus dem Kontingent der Vorauswahlkommission hervorgeholt hat die Jury die zweite Auszeichnung in der Fernsehsparte: „Die Weggeworfenen“, eine ZDF-Reportage des Geschwisterpaars Anita und Marian Blasberg und des Fernsehjournalisten Lutz Ackermann, die in Togo nach dem Verbleib der aus Deutschland abgeschobenen Familie Kpakou forschten. Das ist echte journalistische Nachhaltigkeit: Denn die Abschiebung selbst hatten die Blasbergs schon zuvor im „Zeitmagazin“ akribisch dokumentiert und waren auch dafür preisgekrönt worden. Nun also die Fragen nach den Folgen. Herausgekommen ist ein hochpolitischer, dabei gnadenlos nüchterner Dokumentarfilm, der einen Sendeplatz am Hauptabend verdient gehabt hätte.
Auszeichnung für ein Lebenswerk
Die Geisendörfer-Jury hatte in diesem Jahr manches zu beurteilen, diskutierte oft kontrovers, bevor die Entscheidungen getroffen werden konnten. Eines aber war sofort unstrittig: dass niemand so sehr den Sonderpreis der Jury verdient habe wie Hans Janke. Warum, das begründet die Laudatio. Noch mehr erfährt man über diesen Ausnahme-Mann der deutschen Fernsehkultur aus der Würdigung von Uwe Kammann (epd 33-34/09) und aus der Leipziger Preisrede von Matti Geschonneck (vgl. Dokumentation in dieser Ausgabe)
Hier soll, zum Abschluss und Abschied, Hans Janke selbst das Wort haben. In seinem großen Abschiedsinterview, das er im Sommer der ZDF-Mitarbeiterzeitschrift „kontakt“ gab, hat er auf fünf (!) Seiten sein fernsehästhetisches und programmpolitisches Vermächtnis formuliert. Lesenswert das Ganze, hier nur ein kleines Zitat, in dem Janke auf 20 Jahre Kärrnerarbeit im ZDF zurückblickt: „Eine Sinekure allerdings war und ist es nie, keinen Moment. Es war immer wahnsinnig nervös und schwierig, und manchmal sogar schön gefährlich und gefährlich schön, schon weil hochgradig interessenkonfliktgeladen.“
Bleibt uns nur, Hans Janke, dem praktischen Fernsehkritiker und kritischen Programmmacher, dem Freund auch dieses Hauses und dieses Dienstes, einen Slogan nachzurufen, mit dem sein Ex-Arbeitgeber ZDF ihn auf einem überlebensgroßen Poster verabschiedet hat: „Danke Janke“.
Aus: epd medien Nr. 72, 12. September 2009