Laudatio auf den Westdeutschen Rundfunk und Adolf Winkelmann, Sonderpreisträger 2008
Es geht um nichts weniger als um Verantwortung. Um Antworten auf Fragen, die sich aus dem Tun oder dem Unterlassen ergeben. Es geht um die Bereitschaft, die Folgen aus dem eigenen Tun oder Unterlassen zu tragen und dafür einzustehen.
Es geht um die Verantwortung des Einzelnen, die Verantwortung von Unternehmen, die Verantwortung der Gesellschaft. Und es geht darum, diese Verantwortung zu thematisieren und einzufordern; damit geht es auch um die Verantwortung der Medien.
Im Oktober 1957 kam ein vermeintlich harmloses Schlafmittel auf den Markt. 1961 wurde Contergan vom Markt genommen. 10.000 Kinder kamen in dieser Zeit – schwer geschädigt von diesem Mittel – auf die Welt. Der Name des Medikaments steht für einen der großen Medizinskandale in diesem Land. Er steht auch für bizarr anmutende juristische Auseinandersetzungen und für Fehlleistungen der Justiz. Und er steht für die Mechanismen kollektiver Verdrängung; 50 Jahre später hatte die Gesellschaft das Schicksal der Contergan-Geschädigten fast völlig ausgeblendet.
Dem WDR ist es im vergangenen Jahr in besonderer Weise gelungen, seine Programmverantwortung einzulösen und sich der res publica zuzuwenden. Der Programmschwerpunkt zum Thema Contergan und seine Folgen ist mit zehn Sendungen im Ersten und WDR-Fernsehen, mit Beiträgen im Hörfunk und einer Präsenz im Netz beachtenswert vielfältig. Wir erfahren etwas von den unendlichen Schwierigkeiten Contergan-Geschädigter, den Alltag zu bewältigen. Nicht Mitleid steht im Vordergrund, sondern Würde. Ein Spiegel wird uns vorgehalten und wir sind befremdet über uns und unseren merkwürdigen Umgang mit Menschen, die ein selbst bestimmtes Leben führen wollen, auch wenn sie behindert sind. Wir erfahren etwas über die Wissenschaftsgläubigkeit vor 50 Jahren und merken ganz nebenbei, dass dies keine Frage der Vergangenheit ist, sondern auch eine unserer Gegenwart. Es geht um Leichtfertigkeit und Verantwortungslosigkeit und Verdrängungsmechanismen – gesellschaftliche Phänomene, die höchst aktuell geblieben sind.
Im Mittelpunkt dieses ausgezeichneten Programmschwerpunkts steht unangefochten der zweiteilige Fernsehfilm „Contergan“, den Adolf Winkelmann realisiert hat. Die Jury würdigt die Arbeit des Regisseurs, der dieses brisante Thema nicht nur als ein Stück Zeitgeschichte zeichnet, sondern als komplexes gesellschaftliches Porträt von größter Aktualität. Stringent, ohne Melodramatik, mit der notwendigen Distanz und – man möchte fast sagen – konventionell im besten Sinn erzählt Adolf Winkelmann einen hochemotionalen Stoff: die Contergan-Geschichte als Geschichte einer Familie. Dass dieser Film gelungen ist ohne falsche Töne, ohne falsche Effekte, ohne spekulatives Mitleid und ohne falsches Pathos, ist vor allem Adolf Winkelmann zu danken.
Dass fünf Dekaden nach dem Skandal versucht wurde, diesen Fernsehfilm gerichtlich zu verhindern – bis schließlich das Bundesverfassungsgericht den Weg frei machte -, zeigt deutlich, wie dringlich die Frage nach Verantwortung zu stellen ist, wie nötig der gesellschaftliche Diskurs darüber ist, wie unbewältigt dieses Kapitel deutscher Wirtschaftswunderhistorie ist und wie aktuell es immer noch ist. Wie dringlich es war, es dem Vergessen zu entreißen.
Mit „Contergan“ ist Adolf Winkelmann, seinem Drehbuchautor Benedikt Röskau, dem Produzenten Michael Souvignier und dem ganzen Team allen Widerständen zum Trotz etwas Herausragendes gelungen: ein Thema auf die gesellschaftliche Agenda zu setzen. Der WDR hat mit diesem Film und dem Programmschwerpunkt ‚Contergan’ seinen Auftrag, Forum und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung zu sein, in vorbildlicher Weise eingelöst: Als Gedächtnis der Gesellschaft zu fungieren, als Instanz, die die Frage nach den Werten dieser Gesellschaft thematisiert und das Gespräch der Gesellschaft über sich selbst ermöglicht, die Anstöße für politisches Handeln gibt und schließlich, ganz im Sinne Robert Geisendörfers, jenen eine Stimme leiht, die sonst nicht gehört werden. Der Programmschwerpunkt Contergan zeigt, wie es sein kann, wenn ein Sender sich in den Dienst der Gesellschaft stellt, der er gehört und die ihn finanziert. Das ist öffentlicher Rundfunk im besten Sinn!
Herzlichen Glückwunsch, Frau Piel, herzlichen Glückwunsch, Herr Winkelmann!