Anna Pein (Buch), Oliver Sturm (Regie) Norddeutscher Rundfunk 2017, Redaktion: Radiokunst, Co-Produktion: Westdeutscher Rundfunk
Begründung der Jury
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland rund 15 Millionen Flüchtlinge, Ausgebombte, Evakuierte und Häftlinge, die heimatlos umherirrten. Unter ihnen waren 12 Millionen Heimatvertriebene aus den deutschen Siedlungsgebieten im Osten. Wie stark die Wiedereingliederung der Vertriebenen in den frühen 50er Jahren die politischen Debatten und das gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik beherrschte, wird deutlich in dem Kurzroman „Die Umsiedler“, den der Schriftsteller Arno Schmidt, selbst einer dieser Heimatlosen, 1953 veröffentlichte. Schmidt hat darin die Erfahrungen mit seiner eigenen Umsiedlung aus der Lüneburger Heide nach Gau-Bickelheim verarbeitet.
Die Autorin Anna Pein (Bearbeitung) und der Regisseur Oliver Sturm haben aus Schmidts Roman ein Hörspiel gemacht, das durch einen überzeugenden Kunstgriff, die Einarbeitung von Tondokumenten aus den frühen 50er Jahren, eine ungeahnte Aktualität erhält. Historisch betrachtet hat die damalige Situation nicht viel gemein mit der heutigen Flüchtlingsthematik, aber der Grundkonflikt der Integration des „Fremden“ in die vertraute „heimatliche Kultur“ lädt zur Analogiebildung ein.
In den Beschreibungen Schmidts und in den historischen Tondokumenten erwachen sie zum Leben: die Vorbehalte der Einheimischen gegen die Neuen, die da von weit her kommen und ein ungewohntes, fremdes Deutsch sprechen. Ein Brief eines Gemeinderats, in dem von „Menschenknäueln“ vor Ort und katastrophalen hygienischen Zuständen die Rede ist, macht deutlich, vor was für einer gewaltigen Aufgabe die Gemeinden damals standen. Die expressionistische, sehr bildhafte Sprache Schmidts bildet einen perfekten Kontrast zu den Reden und häufig in recht steifem Duktus gehaltenen Texten der damaligen Zeit. In Oliver Sturms sorgfältiger Inszenierung werden diese so unterschiedlichen Textsorten zu einer großen, eindrücklichen Erzählung von Flucht, Vertreibung und der Suche nach Heimat. So bringt „Die Umsiedler“ den Hörern die Geschichte, die gerade mal 70 Jahre zurückliegt, nahe. Es wird klar, dass die Aufgaben, vor denen wir Heutigen stehen, nicht annähernd zu vergleichen sind mit denen, die damals zu bewältigen waren.