Autor Charly Kowalczyk. Deutschlandradio Kultur 2010 (Redaktion:Feature/Hörspiel), Koproduktion: NDR
Begründung der Jury
Sozialreportagen sind ein heikles Genre. Oft stellt sich der Autor bedingungslos auf die Seite der Betroffenen, weil das, was sie tun, gut gemeint ist, also auch gut sein muss. Oft werden Schicksale einfach nur ausgestellt, weil sie erschüttern, einen schnellen Effekt erzeugen sollen.
In „Angelika – Annäherung an ein Kinderleben“ lässt Charly Kowalczyk die 19-jährige Angelika erst einmal von ihrem Zimmer, von ihrer vertrauten Umgebung erzählen: So erfahren die Hörer, dass die junge Frau Pferde liebt und die Musikerin La Fee, dass sie aber auch Schwierigkeiten hat, sich zu artikulieren. Nach und nach, sehr behutsam, wird Angelikas Geschichte erzählt: dass sie als Neunjährige in eine Pflegefamilie kam, dass sie zuvor in ihrer Ursprungsfamilie jahrelang missbraucht wurde, dass es Jahre dauerte, bis das Jugendamt auf die schrecklichen Umstände in Angelikas Elternhaus aufmerksam wurde.
Der Autor lernte das Mädchen als 15-Jährige kennen, auch zu ihren Pflegeeltern hat er offensichtlich ein Vertrauensverhältnis. Das merkt man den O-Tönen in diesem Feature an, sie sind von einzigartiger Qualität: Angelikas Pflegeeltern erzählen sehr offen darüber, wie sehr sie sie lieben und wie wichtig es ihnen war, ihr ein wirkliches Zuhause zu geben, in dem sie neues Vertrauen zu den Menschen gewinnen konnte. Umso schwerer war es für sie, mit den Aggressionsschüben der Pflegetochter umzugehen, und sie verschweigen auch nicht, dass sie irgendwann an ihre Grenzen stießen. Erst mit Hilfe eines Therapeuten gelang es ihnen, Angelika zu helfen.
Das Feature lotet auf beispielhafte Weise alle Schichten dieser komplizierten Beziehung zwischen Pflegetochter und Pflegeeltern aus: die Verheerungen, die der jahrelange Missbrauch in dem kleinen Mädchen angerichtet hat, die Ahnungslosigkeit der Behörden, die viel zu lange weggeschaut haben, der Versuch der Pflegeeltern, das Mädchen mit Mut, klugem Menschenverstand und Liebe zu heilen, und schließlich auch ihre Überforderung. Der Autor schaut mit einem zutiefst christlichen Blick auf die Menschen, von denen er erzählt, und lässt die Charaktere in all ihren Schattierungen deutlich werden.